Essen. . Plötzlich 70: Der Bottroper Allgemeinmediziner Ludger Stratmann ist längst zu einer Kultfigur des Revier-Humors. Eine Begegnung zum Geburtstag.

Wir hatten oft Grund, Ludger Stratmann zu beglückwünschen: vor über 25 Jahren zum erfolgreichen Verlassen der Bottroper Praxis Richtung Kabarett, später zum millionsten Besucher seiner medizynischen Auftritte. Und jetzt: zum 70. Geburtstag. Lars von der Gönna traf den Doktor und fragte, was ihm diese Schwelle bedeutet – als Arzt, Komiker und Mensch.

70, Herr Doktor! Werden Sie jetzt eher der „Früher war mehr Lametta“-Senior oder die Sorte „Warum sprecht Ihr alle so undeutlich?“?

Ludger Stratmann: Also, ich merke das Alter nicht. Dinge wie Demenz, Katabolismus, Arthrose: kenn’ ich nicht. Ich will diese Klischees nicht erfüllen. Obwohl 70 ‘ne Zahl ist, die schmerzhaft ist.

Warum?

Weil da das Ende absehbar ist, weil die Zeit saust. Und es ist auch ein Endspurt-Gefühl, weil ich nicht davon ausgehe, bei meinem Lebenswandel älter als 80 zu werden.

Sie haben aber gerade ‘ne tolle Diät hingelegt, schwimmen täglich...

Ja, ich habe auf Deubel komm raus abgenommen und hoffe, dass mich dieser blöde Herr Jojo nicht bald wieder einholt. Bei meinen Frühschwimmkollegen behaupte ich mich tapfer. Wenn ich meine Bahnen ziehe, ist das auch ein Kampf gegen Alters-Klischees. Ich pflege meinen Körper. Dem verdanke ich ja alles.

Andererseits liegen hier Ihre Zigaretten auf dem Tisch. Schrecken Sie die Horrorfotos nicht?

Nee. Hat man als Arzt ja alles selbst gesehen. Zumindest in der Öffentlichkeit versuch’ ich, das Rauchen zu kontrollieren. Man wird ja doch schon sehr kritisch beobachtet.

Aber sonst haben Sie nix?

Nee. Doch! Einen Herzschrittmacher. Kommen Sie als Mann in meinem Alter mit einem Kardiologen zusammen, haben sie danach ‘n Schrittmacher, zwangsläufig.

Frauen kriegen Thermomixe, Männer Schrittmacher?

Die Dinger scheinen irgendwo auf Lager zu liegen. Die müssen die raushauen.

Denken Sie viel an früher?

Nein, gar nicht. Meine Frau weiß sogar noch, wie vor Jahren an bestimmten Tagen das Wetter war! Is’ bei mir völlig weg. Ich bin wirklich sehr in der Gegenwart.

Und Ihre Kinderzeit?

Die ist bei mir relativ präsent. Da ist viel passiert, mein Vater starb, als ich zehn war. Wir sind umgezogen von Westfalen ins Ruhrgebiet...

Wen sehen Sie, wenn Sie sich als kleinen Jungen sehen?

Ich war ein Tagträumer, hab’ mir die kühnsten Geschichten ausgedacht. Wer ich, Ludger, mal sein möchte. Zum Beispiel, wie ich mir in Verl am Ölbach ein Boot gebaut habe, auf dem ich Käptn war. Und als ich am nächsten Tag in Verl in die Schule ging, standen die Kinder Spalier und jubelten. Als achtes von neun Kindern hat man natürlich nach Anerkennung gelechzt, sie bestenfalls einfach erträumt!

Ein Traum gegen die Wirklichkeit.

Vielleicht. Ich war Schulversager. Ich passte in diesen Schulanzug einfach nicht rein. Aber ich war immer glücklich, weil ich so wenig wusste. Du kannst nur glücklich sein, wenn du nicht alles weißt!

Wie sehen Sie Ihren Weg rückblickend? Mit Stolz?

Ehrlich: Das Gefühl des Stolzes, das Empfinden von Überschwang hinsichtlich meines Lebens – das kenne ich eigentlich nicht.

Woran liegt das?

Weil es viel Arbeit war. Weil ich zuviel anderes habe links liegen lassen.

Und weil Sie Perfektionist sind!

Ja, eine missratene Szene kann mich so quälen, dass der ganze Jubel wenig wert ist. Ein kleines bisschen Depression ist schon in mir drin. Ich steh’ auch ungern im langen Applaus; im Grunde weiß ich nicht, was ich da tun soll.

Aber eine gewisse Prominenz...

...gefällt mir, klar. Jeder ist eitel. Ich bin schon fast beleidigt, wenn ich zum Straßenverkehrsamt gehe und die Dame fragt: „Ihr Name, bitte?“

Haben Sie als Arzt eigentlich eine medizinische Erklärung dafür, dass Menschen beim Lachen ihre Schmerzen nicht mehr spüren?

Ich glaube nicht, dass das Biochemie ist. Aber der Körper kann Prioritäten setzen: Wenn was richtig Schönes in Sicht ist, kommt die kaputte Bandscheibe eben in die zweite Reihe...

Dürfen Sie als Kabarettist nie aufhören, sich zu wundern, etwa über eine ganze Generation, die sich jetzt in Fitness-Studios definiert?

Oder in nahezu Ganzkörpertätowierungen. Oder beides. In meiner Jugend hätte man sowas eher in die Abteilung Unterbelichtete oder Justizvollzugsanstalt eingeordnet, aber wenn ich Toni Kroos’ Arm sehe, hat das ja geradezu Vorbildcharakter. Mehr bewegt mich allerdings, wie Werte verloren gehen. Empathie etwa.

Wo sehen Sie das besonders?

Bei einem Innenminister und seiner Art über Menschen auf der Flucht zu sprechen. Die Kälte, dieser totale Mangel an Mitgefühl – und dann gleichzeitig dieses Gequatsche von Werten!

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70 heißt Bilanz: Was war der schrecklichste Abend von tausenden auf der Bühne?

Weihnachtsfeier: Ein besoffener Radiologe aus Bocholt! Der hatte das Programm schon ein paar Mal gesehen und röhrte dauernd die Pointen rein. Es war ein Alptraum.

Und ein besonders schöner?

Eine ganze Reihe nur Rollstuhlfahrer aus Duisburg. Und ich oben mit meiner Nummer mit dem Gehwägelchen! Die haben Tränen gelacht. Die hatten verstanden, warum ich das mache. Nicht, um Menschen ins Aus zu stellen, sondern um mit „Jupps“ Augen diese Welt zu sehen. Manchmal ist sie dann einfach leichter zu ertragen.