Essen. Durchs Leben getanzt, das Schreiben gefunden - wie Judith Kuckart, die neue Trägerin des Literaturpreises Ruhr, über das Tanzen und ihre Großmutter zum Schreiben kam – und was Edgar Reitz damit zu tun hat

Bevor ich anfing zu schreiben, habe ich etwas anderes im Leben gemacht.

Viele meiner Kollegen haben einen anderen Beruf gehabt, bevor sie zu schreiben anfingen. Ulrich Woelk war, ist Astrophysiker, Norbert Gstrein war Mathematiker, Katja Lange-Müller war Krankenschwester, Margrit de Moor war Opernsängerin, Melita Bresnik ist Ärztin, Gottfried Benn war das auch, Arnold Stadler wollte Priester werden, Sie wissen, was Kafka gearbeitet hat, und die Liste ist lang.

Bevor ich anfing zu schreiben, habe ich Theater gemacht. Tanz und Theater. Ich machte meine Tanzausbildung, brach sie ohne Diplom ab, weil ich mich unwohl fühlte als ziemlich altes Pferd unter fünfzehnjährigen Elfen an der Folkwangschule Essen. 1984 habe ich meine eigene Compagnie gegründet: das Tanztheater Skoronel. Im Juni 1985 gab es in Paris unsere erste Premiere im Café de la Danse, Nähe Oper Bastille.

Stimmiger Paarlauf

Zur Person

Judith Kuckart

Judith Kuckart, 1959 in Schwelm geboren, bekam in dieser Woche den mit 10 000 Euro dotierten Literaturpreis Ruhr verliehen. Sie schrieb die Romane „Wahl der Waffen” (1990), „Die schöne Frau” (1994), „Der Bibliothekar” (1998), „Lenas Liebe” (2002) „Kaiserstraße” (2006) und „Die Verdächtige” (2008). Sie lebt als Schriftstellerin und Regisseurin in Berlin und Zürich. Zurzeit inszeniert sie am Staatstheater Karlsruhe.

Rückblickend betrachtet, finde ich es entlastend, nicht wie meine Freundin F. mit acht Jahren bereits Schriftstellerin werden zu wollen und mit achtzehn den ersten Roman fertig zu haben. Mir war es fremd, Schriftsteller sein zu wollen, nur weil ich Lesen und Schreiben in der Schule gelernt hatte, oder weil ich als Dichter zum Glück kein Instrument lernen oder etwas anderes Anstrengendes tun musste, das mich gleich auf die Mühen der Ebenen und dort in die eigenen Grenzen verwiesen hätte. Mir blieb es auch in den trostlosesten Stunden fremd, mich mit dem Fernziel Schriftsteller über langweilige Sonntagnachmittage hinweg zu trösten, die mir mein Überflüssigsein auf dieser Welt deutlich zeigten. Ich bin in diesen Stunden, die wirklich unangenehm sind, joggen, tanzen, bei anbrechender Dunkelheit auf einen verlassenen Spielplatz zu den herumlungernden Jungen gegangen, später zum Rauchen und noch später ins Kino.

Schreiben hatte für mich immer etwas damit zu tun, vom Leben erzählen zu wollen und dabei Gelebtes und Erfundenes zu einem stimmigen Paarlauf zu überreden, mittels Sprache.

Schreiben hatte bei mir immer etwas mit Geldverdienen zu tun.

Schreiben hat mit Tod zu tun.

Wer erzählt, hat eine Frage.

Erzählen hat mit Heimat zu tun.

Orgien des Erzählens

Ich glaube, erzählen wollte ich schon immer. Nur wusste ich lange nicht, dass es auf die schriftliche Form hinauslaufen würde. Ich glaube, Erzählen hat bei mir auch etwas mit einer Art Familientradition zu tun. In den zwanziger Jahren trat meine Großmutter ihre erste Stellung als Dienstmädchen in Paderborn an, bevor sie nach Schwelm kam und den jüngsten Sohn der Herrschaften, meinen Großvater also, verführte. Sie wollte ankommen, meine unruhige Großmutter. Ihr Großvater nämlich war Scherenschleifer gewesen. Er zog von Ort zu Ort mit einem Karren und zwei kleinen Mädchen, die seine Töchter waren, und erzählte die Geschichten von jenseits des Hügels diesseits des Hügels den Bauern weiter. Sicher erfand er dazu, manchmal mit geliehener Pracht, um sich nicht mit sich selber zu langweilen, um nicht nur der fahrende Darsteller seiner selbst zu sein. Meine Großmutter hat mir von ihm erzählt, als hätte sie mit in dem Karren gesessen, obwohl sie ihn und sein Leben so wenig kannte wie die Zitronen in Australien. Oder doch? Vielleicht erkannte sie ihn und ihn in sich – in diesen Orgien des Erzählens, in diesem Talent, das sie von ihm gehabt haben mag. Talente überspringen, so sagt man, oft eine Generation und vererben sich von den Großeltern auf die Enkel. Erzählen also eine Familienkrankheit?

Wer erzählt, hat eine Frage.

Erzählen ist Heimat.

Meine Großmutter ist Erzählen und Heimat. Ich bin die Frage.

Der Rat von Edgar Reitz

Bevor ich anfing zu schreiben, wollte ich mit fünf Fallschirmspringerin werden, mit sechs wollte ich zum Zirkus, mit sieben kam ich ins Ballett, weil ich den langsamen Handstand schon mit fünf konnte, und die folgenden zehn Jahre wollte ich Tänzerin werden. Das kam mir dann mit siebzehn ziemlich blöd vor, also setzte ich ein Jahr aus und wurde so sehnsüchtig nach meiner alten Ballettschule, dass ich mit achtzehn mich wieder an-meldete. Essen, Köln, Heidelberg. Das ging dann alles schnell. Mit zweiundzwanzig ging ich nach Berlin, und weil mir zu dem Zeitpunkt das Tanzen wieder einmal blöd und nutzlos und weltfremd vorkam, bewarb ich mich an der DFFB, der dortigen Filmhochschule. Das Thema in jenem Jahr meiner Bewerbung war „Heimat”. Der Dozent, der sich das Thema ausgedacht hatte, hieß Edgar Reitz. Er hat diesen Mehrteiler „Heimat” über Jahrzehnte gemacht, eine Art Serie, die mit den fünfziger Jahren begann und neulich endete. Er hat mich damals nicht genommen. Ich bekam eine Absage, ein Standardschreiben, das aber mit einem handgeschriebenen Satz endete: „Sehr geehrtes Fräulein Kuckart, ich finde, Sie sollten schreiben. Ihr Edgar Reitz.”

Es sollte noch fast zehn Jahre dauern, bis ich dem Rat von Edgar Reitz folgte.