Frankfurt/M. . Ein Gespräch mit Autorin Arundhati Roy über neuen hinduistischen Nationalismus – und eine Art des Realismus, der nur irrtümlich „magisch“ ist.
Freundlich, das ist das Wort, das sich bei einer Begegnung mit Arundhati Roy spontan aufdrängt. Mit offenem Lächeln begrüßt die 55-Jährige ihr Gegenüber. Um dann, noch immer lächelnd, von der jüngsten Tragödie in ihrer Heimat zu erzählen: Eine Freundin, Journalistin, ist in der Nacht auf offener Straße erschossen worden. Mit Britta Heidemann sprach die Aktivistin und Autorin über die Lage in Indien, die Gewalt gegen Frauen und ihren zweiten Roman, der auch in Europa die Bestsellerlisten erobert hat: „Das Ministerium des äußersten Glücks“.
Ihr Debütroman „Der Gott der kleinen Dinge“ hat Sie über Nacht berühmt gemacht; Sie haben Ihre Popularität seither für politische Zwecke genutzt – zum Ärger der Regierung. Wie waren nun die Reaktionen auf Ihren zweiten Roman?
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Es ist überraschend wenig passiert. Das hatte vermutlich zwei Gründen. Zum einen hatte ich entschieden, keine Lesungen zu halten – in der Vergangenheit gab es immer Demonstrationen rund um meine politischen Auftritte, das wollte ich nicht. Und dann passierte noch etwas, was zuerst schrecklich war und dann in gewisser Weise nützlich: Eine Woche, bevor das Buch erschien, behauptete eine pakistanische Webseite, ich sei in Kaschmir. Daraufhin sagte ein Abgeordneter der Regierungspartei, man sollte mich vor einen Jeep der indischen Armee ketten und als menschliches Schutzschild benutzen. Erst vor kurzem hatte die Armee dies mit einem Kaschmiri gemacht. Es gab Diskussionen über das Statement, es gab Menschen, die davon schockiert waren. Als dann mein Buch erschien, hatte es offenbar erstmal genug Schlagzeilen um mich gegeben. Also blieb es ruhig.
Es gibt viele Drohungen gehen Ihre Person, Sie sind mehrfach angeklagt worden. Wie gehen Sie damit um, wie schützen Sie sich?
In Indien ist es üblich, Menschen durch möglichst viele Vorladungen vor Gericht zu bestrafen. Man muss aber in unterschiedliche Städte reisen, wird hier angeklagt oder dort, dann wird der Termin plötzlich auf den nächsten Tag verschoben. Als ich in der Schlussphase meines Romans war, hatte ich davor am meisten Angst, weil diese Dinge meine Konzentration stören. Eine zweite Methode der Einschüchterung besteht in ständigen Drohungen, gerade gegenüber Frauen, oft über das Internet und oft sexueller Art. Ich wollte mich nie auf dieses Body-Guard-Business einlassen, sondern frei sein – auch im Kopf. Man muss vorsichtig sein, taktisch agieren und wissen, wann man sich besser unsichtbar macht.
Haben Sie je darüber nachgedacht, Indien zu verlassen?
Nein. Es ist gar nicht unbedingt so, dass ich eine große Patriotin wäre. Aber in Indien leben die Menschen, die ich kenne und liebe. Ich lebe dort wie ein Baum, den man nicht entwurzeln kann. Als Schriftstellerin muss ich an dem Ort sein, über den ich schreibe – mit Dreck unter den Fingernägeln, mitten drin.
Sie haben gerade die Situation der Frauen in Indien angesprochen. In europäischen Medien sind Vergewaltigungen in Indien sehr präsent.
Es gibt mehrere Gründe, warum gerade in Indien so viel Gewalt gegen Frauen herrscht. So hat das alte Feudalsystem, nach dem der Mann einer höheren Kaste sich ungestraft an einer Frau aus einer niedrigeren Kaste vergehen kann, noch immer Bestand. Die Zivilgesellschaft würde niemals gegen solche Vergewaltigungen protestieren. In Dörfern sind die alten Traditionen noch sehr lebendig. Aber als eine Studentin im Bus vergewaltigt und getötet wurde, da gab es Demonstrationen. Diese Männer wurden getrieben vom Ärger über eine neue Generation junger Frauen, die in den Städten ihren eigenen Weg suchen.
Es gibt feministische Bewegungen in Indien – wie sind ihre Chancen?
Was ist eine feministische Bewegung? In vielen Entwicklungsländern wurde Feminismus zu einem NGO-Projekt, das von Fremden definiert wurde. In Indien besteht eine häufige Form der Gewalt gegen Frauen in der Enteignung von Land, weil etwa große Staudammprojekte realisiert werden. Nur ein kleiner Prozentsatz erhält dafür Entschädigung – meistens die Männer. Die Frauen werden auf die Straße gesetzt. Dies sollen wir als Prozess der Globalisierung betrachten. Der Protest dieser Frauen gilt nicht als Feminismus, ist aber feministisch!
Die beiden Hauptdarstellerinnen im Roman sind Feministinnen, oder?
Unbedingt – in ihrer eigenen Definition des Wortes. Sie sind wie Wasser, das den Felsen formt.
Was könnten wir von ihnen lernen?
Anjum wird als Junge geboren, als Muslim im alten Teil von Delhi. Als Frau lebt Anjum in diesem Haus, das Menschen vieler Geschlechter und religiöser Überzeugung versammelt. Weil sie so anders sind als biologische Frauen, haben sie auch eine andere innere Freiheit. Tilomatta wurde als Frau geboren, aber sie geht Risiken ein. Sie teilt nicht die Träume der meisten indischen Frauen, zu heiraten und Kinder zu bekommen. Sie will nicht der Besitz der Männer sein; dies aber ist häufig der Preis, den Frauen für die Liebe bezahlen. Bei Anjum und Tilo geht es um Grenzen: des Geschlechts oder der Kaste. Es ist selten in Indien, dass sich Menschen gegen diese Grenzen auflehnen.
Wird sich das Kastensystem jemals überwinden lassen?
Die Kasten sind Teil des Hinduismus. Das Kastensystem hat nichts mit gesellschaftlichen Klassen zu tun, sondern ist tief verwurzelt in der Religion. Sogar Gandhi hat nicht an den Kasten gerüttelt.
Im Roman geht es auch um das Massaker von Gujarat, das Hindus an Muslimen verübten. Damals war Narendra Modi Regierungschef des Bundesstaates Gujarat – Modi trat zunächst zurück, wurde jedoch später wiedergewählt. Heute ist er Premierminister Indiens.
Der Hindu-Nationalismus hat Indien fest im Griff. Seine Anhänger bewundern ganz offen die Ideologien der deutschen Nationalsozialisten, nennen etwa die Muslime die Juden Indiens. Modi ist nicht populär trotz dieses Massakers, sondern gerade deswegen. Er hat nie öffentlich gesagt, dass er die Geschehnisse in Gujarat bedauert. Jeden Tag werden Muslime öffentlich gelyncht. Die Situation ist absolut erschreckend. Die Propaganda, der Hass ist bis tief ins Volk gelangt. Jeder Übergriff treibt die Muslime weiter in ein gesellschaftliches Ghetto. Die ausländische Presse schreibt wenig darüber, weil die Reporter oft gar nicht sehen, auf welchen Ebenen all dies passiert. Indien wird immer noch beworben als dieser großartige Finanzplatz. Man will Indien als Demokratie sehen.
Haben Sie aus diesem Grund den Roman geschrieben, um den westlichen Blick zu öffnen?
Ein Roman ist nichts, das man zu einem bestimmten Zweck benutzen könnte. Ein Roman ist kein Argument, sondern ein ganz eigenes Universum.
Aber doch ein Universum, das nah an der Realität ist? Die Charaktere wirken zwar phantastisch – aber wenn Sie über sie sprechen, kommen sie mir sehr lebendig vor.
Das ist auch so. Es gibt gar keinen magischen Realismus im Roman, wie manche geschrieben haben. Sondern tatsächlich Menschen, die auf dem Friedhof leben – warten Sie, ich zeige Ihnen ein Foto! (Zückt das Handy, zeigt ein Foto von einem Lager auf Gräbern.) Verrückt, oder?
Das Buch dreht sich um die Frage des Glücks und der Glückssuche. Was bedeutet denn Glück für Sie? Wann sind Sie glücklich?
Glück bedeutet für mich, etwas zu tun, was mich ganz beschäftigt, vom Kopf bis zu den Fingerspitzen. Wenn ich schreibe, dann ist das so.