Essen. „Humor macht Dinge erträglich“: Sven Regener über sein neues Buch, die Herr-Lehmann-Reihe, Kreuzberger Künstler der 80er-Jahre – und Aristoteles.
Jeder Mensch ist ein Künstler – oder sagen wir, jeder Kreuzberger. Schriftsteller Sven Regener, der in den 80er Jahren als Sänger von „Element of Crime“ bekannt wurde, schrieb 2001 seinen ersten Roman um den Kreuzberger Barkeeper Frank Lehmann. Warum das neue Werk „Wiener Straße“ mehr ist als ein weiterer Lehmann-Roman, das erfuhr Britta Heidemann von dem 56-Jährigen.
Herr Regener, das ist Ihr vierter Roman um Herrn Lehmann und seine Freunde: Warum lässt diese Zeit Sie nicht los?
Sven Regener: Das sind interessante Leute, für viele Abenteuer gut. Bei „Wiener Straße“ ist Frank Lehmann dabei, aber nicht mehr unbedingt die Hauptperson. Und es gibt neue Leute, Wiemer, Kerstin, den Fernsehredakteur Prohaska, Kacki von der ArschArt-Galerie, das hält auf Trab.
Die 80er in Kreuzberg, das war die Zeit des Aufbruchs, bestimmt von der Idee, jeder könne Künstler – oder mindestens Lebenskünstler – sein. Was ist geblieben?
Ich glaube, damals wurde der Grundstein gelegt für vieles, was heute selbstverständlich ist. Unter anderem eben, dass man auch in der bildenden Kunst ohne Erklärungen oder Entschuldigungen auskommen kann, dass die Kunst entakademisiert wurde, was ihr gewiss gut getan hat, sie aber auch unübersichtlicher machte.
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„Wiener Straße“ ist als Künstlerroman sehr böse. Ein „H.R. Ledigt“ wird mit der Kettensäge eher versehentlich zum Provokateur. Mögen Sie die bildende Kunst?
Ich liebe sie. Und ich liebe auch diese Figuren. Was nicht heißt, dass sie alles kleine Engelchen sind.
Hätte die Szene sich damals mehr für das interessieren sollen, was jenseits der Mauer war?
Es gab Leute, die sich mehr dafür interessierten. Andere weniger. Ich werte nicht. Und ich möchte niemanden erziehen, schon gar nicht im Nachhinein, das wäre hochmütig. Das Buch erzählt, es urteilt nicht. Wenn er möchte, kann der Leser das tun. Aber lieber ist es mir, wenn er zu verstehen versucht.
2016 hatten Sie die Grimm-Professur in Kassel inne, es ging um „Depression und Witzelsucht“ und die Kälte, die im Humor liegen kann – weil sie Gefühle auf Distanz hält.
Das ist ein Wechselspiel. Humor kann Dinge erträglich machen, die es andernfalls nicht wären. Je mehr Gefühle also ein Roman hervorruft, je mehr Jammern und Schaudern, wie es bei Aristoteles heißt, desto wichtiger ist es manchmal, dass es etwas zu lachen gibt, damit man das alles überhaupt ertragen kann.