Essen. . „Die Vernunft befiehlt uns, frei zu sein!“: Vor 200 Jahren, am 3. April 1817, wurde Mathilde Franziska Anneke in Sprockhövel geboren.
Sie bereitete dem amerikanischen Frauenstimmrecht den Weg, sie kämpfte 1848 im Badischen Aufstand und gab die allererste „Frauen-Zeitung“ in Köln heraus: Mathilde Franziska Anneke ist die ungewöhnlichste, berühmteste (und sehr lange vergessene) Tochter der Stadt Sprockhövel. Wenn nun in diesen Tagen ihr 200. Geburtstag groß gefeiert wird, hat dies auch damit zu tun, dass ein Idyll jäh zerplatzte: Denn Mathildes herrlich unbeschwerte Kindheit endete abrupt mit dem Bankrott des Vaters, führte sie in eine reiche, unglückliche Ehe, in entbehrungsreiche Zeiten als Alleinerziehende – und wohl erst auf diesem Umweg zu dem Bewusstsein, dass die Rolle der Frau in der Gesellschaft eventuell neu vermessen werden müsste.
Geboren am 3. April 1817 in der Gemeinde Hiddinghausen auf dem großelterlichen Gut Oberleveringhausen, wächst Mathilde Giesler in einem behüteten wie toleranten Elternhaus auf: Der Vater Karl ist evangelisch, die Mutter Elisabeth (geb. Hülswitt) aber katholisch – Mathilde und die ihr nachfolgenden elf Geschwister werden im fröhlichen Durch- und Nebeneinander der Konfessionen erzogen, immer aber mit Liebe und Engagement. Der Wohlstand der Familie gründet sich auf Grundbesitz und Steinkohlegruben. Bald zieht die Familie nach Blankenstein, wo der Vater zudem Ratsherr wird. Ihre Jugend genießt Mathilde, so schreibt sie, „eigentümlicherweise als freies und heiteres Bergkind auf klippevollen Höhen und in blumigen Tälern an der Seite des Vaters“.
Vater verspekuliert sich mit einem Bahn-Projekt
Als Mathilde 17 Jahre alt ist, ein hübsches Mädchen von auffallend großer Statur, aber verspekuliert sich ihr Vater mit einem Eisenbahnprojekt. Je nach Quellenlage wird die Ehe, die Mathilde 1836 mit dem etwas älteren Mülheimer Weinhändler Alfred von Tabouillot eingeht, gedeutet: als „Zwangsheirat“ von feministischen Publizistinnen, als Mischung aus Liebesheirat und Kalkül von anderen, denn tatsächlich kann die Familie Giesler durch die Kontakte Tabouillots die Schulden begleichen. Mathilde selbst aber gerät die Rettungstat zum Fiasko: Zwar bringt sie noch im November 1837 ihre Tochter Fanny in der Mülheimer Ehe zur Welt, doch verlässt sie ihren trinkenden, gewalttätigen Mann schon im Dezember und führt in den folgenden drei Jahren einen schwierigen Scheidungsprozess. Der Aufforderung des Richters, zu ihrem Ehemann zurückzukehren, widersetzt sie sich, so dass sie am Ende schuldhaft geschieden wird, zwar die Tochter behalten darf, aber keinerlei Unterhalt erhält.
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1839 zieht Mathilde von Tabouillot nach Münster. Wovon soll sie leben? Sie versucht es mit dem Schreiben, verfasst zwei „Gebetbücher für die christlich-katholische Frauenwelt“ und Artikel für Zeitungen. Der Dichter Ferdinand Freiligrath nennt sie bewundernd ein „Capitalsfrauenzimmer“, die ihr ebenfalls bekannte Annette von Droste-Hülshoff aber rümpft die Nase, nennt sie „blutarm“ – und bemerkt, sehr richtig, dass Mathilde trotz allen Eifers in einer finanziell prekären Situation lebt.
Die „politische Erbin“ für Karl Marx
Die freiheitlichen Lüfte des Vormärz aber erfassen auch die katholische Bürgerstochter, sie gründet einen eigenen Salon, wird im konservativen Münster bald „Kommunistenmutter“ genannt. Im „Demokratischen Verein“ trifft Mathilde auf Fritz Anneke, der aufgrund seiner demokratischen Gesinnung die preußische Armee hatte verlassen müssen. Die beiden heiraten und ziehen 1847 nach Köln.
Ihr Salon wird besucht von Hoffmann von Fallersleben, Georg und Emma Herwegh, Ida und Ferdinand Freiligrath, selbst Karl Marx zählt zum Bekanntenkreis. Als Umstürzler wird Fritz Anneke zeitweilig verhaftet, die „Neue Kölnische Zeitung“, die das Paar als Sprachrohr gegründet hatte, führt nun Mathilde alleine. „Kaum zu ermessen und bewundernswert sind die Leistungen der jungen Frau in dieser Zeit, die am 24. Juli 1948 einen Sohn geboren hatte und zusätzlich einen verzweifelten Ehemann im Gefängnis aufrichten musste“, schreibt Karin Hockamp vom Sprockhöveler Stadtarchiv über Mathilde Anneke (ihre Schrift ist im Brockmeyer-Verlag erschienen). Als die Zeitung verboten wird, gibt Mathilde sie flugs unter neuem Namen heraus: „Frauen-Zeitung“. Karl Marx nennt Chefredakteurin Anneke, als er 1849 die eigene Zeitung in Köln aufgeben muss, „seine politische Erbin“.
Zäsur im Leben der Annekes
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Das Frühjahr 1849 bringt eine Zäsur, auch für das Leben der Annekes. Als Kommandeur nimmt Fritz am Badisch-Pfälzischen Feldzug teil, Mathilde folgt ihm hoch zu Ross. Als die Revolution niedergeschlagen wird, fliehen die Annekes in die Schweiz, reisen von dort weiter in die USA. Mathilde hadert mit dieser Wahl, doch werden die „Fortyeighters“ begeistert willkommen geheißen. Weil in Milwaukee in Wisconsin bereits viele Deutschstämmige leben, zieht es auch die Annekes dorthin. In Vorträgen berichtet Mathilde Anneke vom deutschen Freiheitskampf, kehrt aber auch immer wieder zum Thema der Frauenrechte zurück: „Die Vernunft befiehlt uns, frei zu sein!“ 1852 gründet sie die „Deutsche Frauen-Zeitung“ und damit die erste feministische Zeitung einer Frau in den USA. Die Forderung nach dem Frauenwahlrecht wird zu ihrem Mantra – und macht sie schließlich zur Vizepräsidentin der neu gegründeten „National Woman Suffrage Association“.
Die Ehe mit Fritz Anneke aber wird in den USA zunehmend schwieriger. Als 1858 zwei ihrer Kinder an den Pocken sterben, verlieren sie „unser Glück, unsere ganze Hoffnung“, schreibt Mathilde an ihre Mutter. Das Ehepaar trennt sich schließlich, wenn es auch nie offiziell geschieden wird. 1860 zieht Mathilde mit den Kindern nach Zürich, lebt dort mit der Schriftstellerin Mary Booth zusammen, bis diese 1865 stirbt. Zugunsten ihrer Kinder Herta und Percy kehrt sie schließlich in die USA zurück, es ist ja doch die Heimat ihrer Kinder.
Gründerin des „Milwaukee Töchter-Institut“
Mit der Pädagogin Cäcilie Kapp, die sie in der Schweiz kennengelernt hatte, gründet sie hier das zweisprachige „Milwaukee Töchter-Institut“: Die Bildung der Mädchen scheint ihr der Schlüssel zur Gleichberechtigung, wobei sie laut ihrer Biografin Maria Wagner (ihr Werk ist nur noch antiquarisch erhältlich) großen Wert auf Mathematik und Naturwissenschaften legt.
Obwohl die Schule – endlich! – Mathilde Anneke auch einen wirtschaftlichen Erfolg beschert, sind ihre letzten Lebensjahre von Kummer geprägt: Die älteste Tochter stirbt mit nur 40 Jahren an Krebs – das fünfte ihrer sieben Kinder, dessen Tod Mathilde erleben muss. Sie selbst erleidet eine Blutvergiftung, die ihre rechte Hand lähmt. Ein chronisches Leberleiden und Gelenkentzündungen machen Auftritte unmöglich.
„Der Stempel ihrer schönen Seele“
Am 25. November 1884 stirbt Mathilde Anneke, mit 67 Jahren: eine Feministin, bevor es das Wort gab, eine Vorkämpferin für Freiheit und Demokratie. „Wir waren bessere Menschen, indem wir in ihrer Nähe geweilt hatten“, schrieb eine ihrer Schülerinnen noch Jahrzehnte später: „Sie prägte uns den Stempel ihrer schönen Seele auf.“