Essen. Melancholische Intendaten, hoffnungsvolle Jungschauspieler, knappe Kassen, Kulturausschüsse - Die Bühnen spielen wieder. Erwartung? Hoffnung? Kunst? Aber eigentlich ist es wie immer. Eine dramatische Mutmaßung.

Aller Anfang ist schön. Die Abonnenten fiebern. Der Spielplan lockt druckerschwarz. Die Theaterkassenfrau, die alle so gern haben, ist aus den Ferien zurück. Sogar der melancholische Intendant ist ein bisschen braun geworden. Die neue Saison: wie ein frisches Schulheft, so rein, so unschuldig. Natürlich sind Kleckse und Eselsohren nur eine Frage der Zeit.

Ein bisschen überregionale Presse

Begonnen hat das Ende der Unschuld genaugenommen schon Ende der letzten Spielzeit: Der Dramaturg hatte Krach mit dem kaufmännischen Leiter. Jetzt sollte er auch noch Drittmittel beschaffen. Der Kaufmann schlug ein Multikulti-Projekt vor, dafür gebe es derzeit schöne Fördergelder. In den letzten Jahren gab es Geld für Projekte mit Senioren, dann für Demenz. Im Moment ist Multikulti. Der Dramaturg sagte, er schaffe das nicht. Die Programmhefte! Bisher hatte der Dramaturg aus drei alten Programmheften ein neues gemacht. Nun müssen zwei reichen.

Gestern hat der melancholische Intendant seine übliche Spielzeit-Auftakt-Aufwartung bei der Kulturausschussvorsitzenden gemacht. Das ist schrecklich für ihn. Der Intendant denkt, so muss sich Tony Blair bei der Queen gefühlt haben. Die Kulturausschussvorsitzende ist Hausfrau. Bei einer Hamburg-Spritztour mit ihren Bridge-Schwestern hat sie vor Jahren „Cats” gesehen. Das hat bei ihr die Liebe zum Theater geweckt. Leider hat sie in ihrer Stadt Vergleichbares dann nicht mehr gesehen.

Besondere Probleme machen ihr die vielen Uraufführungen, für die der melancholische Intendant auch deshalb eine Schwäche hat, weil sie ein bisschen überregionale Presse bringen. Das letzte Stück über die Verfolgung von Lesben im Kaukasus hat der Kulturausschussvorsitzenden gar nicht gefallen, aber so was sagt man nicht. „Interessant” sagt sie zum melancholischen Intendanten und schlägt vor „mehr Heiteres” zu spielen, dann erinnert sie an Schillers Geburtstag. Der Intendant sieht auf die Uhr und lügt der Vorsitzenden eine zusätzliche Probe vor.

Er hat noch bei Gründgens gelernt

Den Intendanten mögen seine Leute nicht. Er ist launisch und reist zu viel. Außerdem hat er sich in eine Jungschauspielerin verliebt, die jetzt alles spielt. Als neulich alle ablästerten, sagte der Leiter des Betriebsbüros, der Intendant am Theater der Nachbarstadt lasse seit Jahren alle guten Rollen von seiner viel zu alten Frau spielen: „Dann doch lieber so!”

Der Kantinenschauspieler ist für die Eröffnungspremieren erneut nicht besetzt worden. Er ist trotzdem im Theater, wo er immer dasselbe erzählt. Zum Beispiel, dass er noch bei Gründgens gelernt hat. Den Kantinenschauspieler nennen sie den Kantinenschauspieler, weil er an diesem Ort der Beste ist – anderswo eher nicht.

Auf Premierenfeiern ist der Katinenschauspieler nach acht Bier Hauptdarsteller und ruft wütend Aphorismen wie „Kunst kommt von Können”. Dass er bei Gründgens gelernt hat, sagt er neuerdings nicht mehr. Seit ein rotzfrecher Folkwang-Absolvent entgegnet hat: „Welchen Beruf?” Seine neue Dauergeschichte ist die von Matthias Hartmann und dessen altem Porsche. Jeder kennt sie.

Orchideenprojekte des Chefs

Jetzt geht's los

Erste Premieren

Die Premieren im September:

Düsseldorfer Schauspielhaus: Liliom (5.), Das Geld (12.), Minna von Barnhelm (17.). Rheinoper: Peter Grimes (18., D'dorf), Salome (19., Duisburg). Essen: Romeo und Julia (19.), Blick zurück im Zorn (29.). Gelsenkirchen: Manon Lescaut (18.). Dortmund: Leuchte auf, mein Stern Borussia (5.), Das Neid-Projekt (11.), Evita (12.). Moers: Urfaust (17.). Neuss: Wie im Himmel (18.), Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (19.). Dinslaken: Die Muschelsucher (11.). Hagen: Street Scene (5.), Der Gott des Gemetzels (26.).

Mit diesem Wochenende und seinen Premieren geht alles los, von vorn. Es gibt eine neue Theaterpädagogin und alte Feindschaften. Es gibt wieder weniger Geld und wieder mehr für Orchideenprojekte des Chefs. Die Geschäftsführerin hofft, dass ihre Affäre um einen privaten Couchtisch-Rabatt durch einen anderen Skandal in Vergessenheit gerät. Der Pförtner geht in Rente, das Theater wird ihm, sagt er, fehlen.

„Wie schön, dass Sie gekommen sind” sagt die langbeinige Pressesprecherin am Abend der Premiere zum Provinzkritiker. Die Pressesprecherin denkt: „Jetzt haben die schon wieder den Blödmann geschickt!” Der Blödmann geistert isoliert durchs Foyer (Journalisten hassen Journalisten, vor allem bessere) und sucht verstohlen auf der Wand mit dem Pressespiegel nach seinem Namen. Wieder, wieder haben sie keinen Text von ihm ausgehängt. Das, denkt er, das werden sie mir büßen.

Fußnote: Figuren und Orte dieses Textes sind frei erfunden. Sollten sie dennoch mit dem Leben zu tun haben, dürfte die Welt wohl doch eine Bühne sein.