Essen. Die Unglücklichen haben nichts zu verlieren. Nicht bei Sibylle Berg. Die einstige Meisterin belletristischer Amokläufe schreibt über glückliche Liebe – und deren umgehenden Verlust.

Sibylle Berg gilt als fieseste Autorin der deutschsprachigen Gegenwart: Ihre Romane sind belletristische Amokläufe; nähmen wir ihre Theaterstücke ernst, müssten wir den Schnürboden erklimmen und uns herunterstürzen. Die Menschen sind ihr nichts als „tragische kleine Zellhaufen mit der Sucht nach mehr”. Um die gequälten Seelen ihrer Figuren errichtet sie eine Sicherheitsglaswand aus bösen Sätzen, an denen Mitleid nur noch abprallen kann. So haben wir das Mitleid für uns selbst: die wir stets aufs Neue dem schwarzen Charme des massiven Berg'schen Weltschmerzes erliegen.

Was würde wohl passieren, entließe Berg einen dieser tragischen kleinen Zellhaufen aus der Kammer des emotionalen Schreckens? Ließe sie einen dieser Sinnenden, Suchenden – etwas finden?

Der untypische Liebhaber

„Er war der geworden, der mir am nächsten stand, der sich an mich gewöhnt hatte und der wollte, dass es mir gutging. Wenn man das Liebe nennen mag, dann eben. Bitte.” So klingt das, wenn Frau Berg über das Glück schreibt. Eine Frau um die 40, Single, lässt sich von jüngerem Mann zu noch jüngerem Mann treiben – und trifft einen älteren, der ihr gar nicht hätte auffallen dürfen: „nicht schön oder reich, kein guter Redner oder charmant auf eine Art, die ihm Bewunderung einbrachte.” Aber: Er gibt der Frau das Gefühl, liebenswert zu sein – ohne Kerzen, ohne Rosen. Nur Liebe, die „ruhig und still verlief, die freundschaftlich war und eine gewisse Niedlichkeit ausstrahlte.” Es ist!

Nein: Es war. Denn im Wechsel mit Glückskapiteln unter der Überschrift „Damals” schildert sie das Elend des „Heute”: Der Mann ist weg. In dem Maße, in dem sie die Zeiten zusammenführt, erahnen wir das Drama. Das Paar unternahm eine Reise auf eine Insel vor Hongkong. In der Gegenwart des Romans wartet die Frau auf jede ankommende Fähre. „Wir hatten uns überlegt, wie es wäre, hier ein Haus zu kaufen. Ich hätte überall mit ihm sein können. Und ohne ihn nirgends.” Wer glücklich ist, hat etwas zu verlieren.

Ernsthaft erwachsen

Umso mehr, je unglücklicher er zuvor war. Der Roman berührt zwar nicht durch besonders eindringliche oder wenigstens originelle Verlust-Prosa („Ich würde im Moment ein Bein hergeben oder beide, um noch einmal den Mann anfassen zu können”). Er erschüttert aber angesichts der Fallhöhe eines Liebeswagnisses, für das Bergs Heldin ihre persönliche Glaswand aus Zynismus, Sarkasmus und Weltverachtung splittern lässt. Um dem Verlust dann schutzlos gegenüber zu stehen.

Der Autorin ist es anzurechnen, dass sie diesmal ihr Absurditäten-Kabinett auf ein Minimum reduziert hat – obschon eine „merkwürdige Bekannte”, ein „unsichtbarer Herr” und ein Zwerg, der an einem Tessiner See ein U-Boot baut (falls ein Tsunami käme), auf abstruse Weise verstrickt sind in das Verschwinden des Mannes. Stattdessen wagt Berg sich an die ernsthafte Frage, warum uns ein positives Gefühl so furchtbar schwer fällt. Selbst das Schreckensmädchen wird erwachsen.

Sibylle Berg: Der Mann schläft. Hanser, 312 Seiten, 19,90 Euro