Essen. Mit der Omikron-Welle droht die Triage in deutschen Kliniken. Es stellen sich ethische Fragen, die uns an Abgründe führen – und darüber hinaus.

Zum Jahresende rückt, bei allem berechtigten Optimismus wegen der ansteigenden Impfquote, eines der pandemischen Neu-Wörter in den Mittelpunkt der Debatte, das mich sehr bedrückt: Triage. Es stammt vom französischen Verb „trier“ und bedeutet so viel wie „sortieren“ oder „aussuchen“. Bedrückend daran ist, dass es dabei nicht um irgendwelche Sachen geht, die aussortiert werden, sondern um Menschen. Wer wird in einer Notlage, in der nicht genug Ressourcen zur Verfügung stehen, medizinisch versorgt, wer nicht? Wer bekommt eine Chance zu überleben, und wer wird unweigerlich sterben müssen?

Die Würde des Menschen ist unantastbar

Ganz neu ist das Wort „Triage“ freilich nicht. Die Militär- und Notfallmedizin kennen es schon lange. Neu ist, dass es ins kollektive Bewusstsein der gesamten Bevölkerung rückt, weil die in Kürze zu erwartende Omikron-Welle (manche sprechen von einer „Omikron-Wand“) unsere Intensivmedizin derart überlasten könnte, dass Ärzte etwa entscheiden müssen, wer an eines der knappen Beatmungsgeräte angeschlossen wird und wer nicht. Dabei geht es um nichts weniger als um das Selbstverständnis einer zivilisierten Gesellschaft und den Wert dessen, was im Grundgesetz in Artikel 1 unverrückbar formuliert ist: Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Ist und bleibt sie das auch in einer pandemischen Katastrophe? Ja, natürlich!, möchte man herausschreien. Da gibt es nichts zu relativieren. Doch bei näherer Betrachtung scheint der Grundsatz doch nicht ganz so unverrückbar zu sein, wenn man aus dem Elfenbeinturm ethisch-juristischer Theorie-Betrachtungen hinabsteigt und sich ganz praktische Beispiele vor Augen führt – Beispiele, die ich selbst bislang nur aus Philosophie-Seminaren kannte und die jetzt real zu werden drohen. Beispiele, die mitten hineinführen in den ewigen Kampf zwischen einem Utilitarismus (lateinisch „utilitas“: Nutzen, Vorteil), der nach möglichst viel Wohl und möglichst wenig Leid strebt, und einer Pflichtethik, die es unabhängig von den unmittelbaren Folgen verbietet, Leben gegeneinander aufzurechnen. Puh!

Intuitiv entscheiden wir verfassungswidrig

Wie würden Sie entscheiden, wenn sie nur noch ein Beatmungsgerät hätten? Hier der 40-jährige Familienvater, verheiratet, zwei Kinder, ansonsten gesund, aber aufgrund einer Corona-Infektion unmittelbar in einer lebensbedrohlichen Situation; dort die 80-jährige Witwe mit diversen Vorerkrankungen, die sich ebenfalls aufgrund einer Corona-Infektion in einer bedrohlichen Situation befindet, kurzfristig aber bessere Überlebenschancen hat als der vergleichsweise junge Mann. Hand aufs Herz: Intuitiv würden Sie doch zuerst den 40-Jährigen retten wollen, oder?!

Das ist Klartext

Klare Kante, klare Meinung – das ist Klartext, die kommentierende Kolumne von Alexander Marinos, stellvertretender Chefredakteur der WAZ. Hier werden aktuelle politische Themen aufgegriffen und subjektiv-zugespitzt eingeordnet. Dabei handelt es sich um ein Meinungsangebot zum An- oder Ablehnen, An- oder Aufregen.Alle Folgen der Kolumne finden Sie hier.Klartext als Newsletter? Hier anmelden.

Sie hätten abgewogen: Statistisch hätte der 40-Jährige, würde er gerettet, mehr Lebenszeit vor sich als die 80-Jährige. Würde er sterben, bedeutete dies auch unermessliches Leid für seine Ehefrau und die beiden Kinder. Sie würden also die alte Frau sterben lassen, um den jüngeren Familienvater zu retten – und dies utilitaristisch begründen, nicht wahr?! Was aber bedeutet das für die Würde der 80-Jährigen? Ist ihr Leben weniger wert? Das Grundgesetz und auch das Bundesverfassungsgericht argumentieren ganz klar auf pflichtethischer Basis: Menschen haben eine Würde, keinen Preis. Das Beatmungsgerät müsste demnach die alte Frau erhalten, weil ihre unmittelbaren Überlebenschancen größer sind.

Das Dilemma ist nicht aufzulösen

Genau so handelt ein Arzt, der die klinisch-ethischen Empfehlungen der Fachgesellschaften beachtet und sich auf dem Boden des Grundgesetzes bewegt. Alter, Behinderungen, Vorerkrankungen, das Lebensumfeld und die angenommene Lebensqualität der Betroffenen dürfen beim Triagieren für sich keine Rolle spielen. Allerdings gibt es ein unauflösliches Dilemma: Die kurzfristigen Erfolgsaussichten einer Therapie werden natürlich auch beeinflusst vom allgemeinen Gesundheitszustand des Patienten, und hier wiederum gibt es oft einen Zusammenhang mit dessen Alter, mit Vorerkrankungen und/oder Behinderungen. Wie lässt sich das sauber trennen?

Und damit nicht genug: Ist nicht auch die Frage nach der unmittelbaren Überlebenschance im Kern eine utilitaristische? Ist das Leben desjenigen, das jetzt und hier am seidenen Faden hängt, wirklich weniger wert? Auch wenn die Wahrscheinlichkeit, mit Hilfe einer nicht für alle zur Verfügung stehenden Therapie zu überleben, seriös durch mehrere Ärzte bestimmt wurde, so bleibt für sie doch handlungsleitend, möglichst viele Menschen zu retten und möglichst viel Leid zu vermeiden.

Eine Überlebens-Lotterie im Krankenhaus?

Eine Kollegin des Wochenmagazins „Zeit“ bezieht sich in ihrem Kommentar auf die jüngste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, wonach der Gesetzgeber dafür sorgen müsse, dass Behinderte im Falle einer Triage nicht aufgrund ihrer Behinderung benachteiligt werden dürften. Dies führe also dazu, schreibt sie, dass Ärzte vermutlich „würfeln“ müssten, um utilitaristische Handlungen zu vermeiden, und das sei „gut so“. Ernsthaft? Das soll die gute Folge des Gerichtsurteils sein, dass in den Kliniken, kommt es ganz dicke, eine Art Überlebens-Lotterie veranstaltet wird? Das soll menschenwürdig sein?

Nein, der Vorschlag ist absurd, und das würden die Verfassungsrichterinnen und -richter so auch nicht wollen. Aber auch unabhängig davon hat Karlsruhe sowohl dem Gesetzgeber als auch den Ärzten einen Bärendienst erwiesen. Das Grundgesetz schützt Behinderte bereits eindeutig durch die Artikel 1 und 3. „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“, steht in Artikel 3. Punkt. Nun soll eine Dilemma-Entscheidung pauschal gesetzlich geregelt werden, statt den kompetenten Ärzten vor Ort zu vertrauen und ihnen den Spielraum für individuell passende Entscheidungen zu überlassen.

Die Gefahr wächst, dass die Triage so überbürokratisiert wird und Intensivmediziner, die solche Entscheidungen unter Zeitdruck treffen müssen, künftig mit einem Bein im Gefängnis stehen. Als ob der Abgrund, in den sie blicken, für diese Ärzte nicht schon tief genug wäre!

Sollten Ungeimpfte die gleichen Rechte haben?

Es ist die Quadratur des Kreises: Die Menschenwürde ist unantastbar, steht im Grundgesetz. Aber das Virus kann leider nicht lesen. Und darum wird es vielleicht Abwägungen geben müssen, die mit der Menschenwürde streng genommen nicht vereinbar sind, ohne diesen absolut gesetzten Grundsatz dennoch aufzugeben.

Aufgeben würde man den Grundsatz sicher dann, wenn neben medizinischen Erwägungen Fragen von Schuld oder Unschuld bei der Triage eine Rolle spielen würden. Der jüngste, vermutlich äußerst populäre Vorschlag der Rechtswissenschaftlerin Tatjana Hörnle, die vorsätzlich ungeimpfte Personen bei der Triage schlechter stellen möchte als geimpfte, weil erstere ihre Notlage durch eigenes Verhalten mit verursacht hätten, führt geradewegs in die Hölle.

Ärztinnen und Ärzte sind keine Richterinnen und Richter. Denken wir es zu Ende: Ist der viel zu dicke Mann, der da in der Notaufnahme nach Luft ringt, vielleicht auch zu einem Teil selbst schuld an seinem Zustand? Hätte er mal weniger gegessen! Oder das weibliche Unfallopfer, das nun eines der zu knappen Intensivbetten begehrt. War die Frau nicht viel zu schnell gefahren auf regennasser Straße? Hat sie es verdient, gerettet zu werden? Nimmt die Menschenwürde ab, wenn man sündigt? Aua, aua, Frau Hörnle! Das ist Stammtisch-Niveau.

Wolfgang Kubicki und die fehlenden Tassen

Was uns freilich direkt zu Wolfgang Kubicki führt. Der Bundestagsvizepräsident, stellvertretende FDP-Vorsitzende und Jurist liegt nicht falsch, wenn er in einem Interview mit der WAZ postuliert: „Die Menschenwürdegarantie unserer Verfassung gilt auch für Ungeimpfte.“ In der Debatte um das Für und Wider einer Impfpflicht den Impfbefürwortern allerdings pauschal zu unterstellen, ihnen gehe es um „Rache“ und „Vergeltung“, ist an Armseligkeit kaum zu überbieten.

Sofern es die Menschenwürde Kubickis nicht verletzt, würde ich daher gerne die Frage stellen, ob der Mann – zumindest quartalsweise – nicht alle Tassen im Schrank hat. Der Verdacht drängt sich schon länger auf.

Aber lassen wir das (Stichwort Stammtisch-Niveau) und begnügen uns mit der Feststellung, dass eine Impfpflicht kein Impfzwang ist und selbst letzterer kein Verstoß gegen die Menschenwürde wäre, da hier niemand verletzt, sondern im Gegenteil geschützt würde – etwa davor, mit einem schweren Covid-19-Verlauf ins Krankenhaus zu kommen und dort einer Triage ausgesetzt zu sein.

Düstere Gedanken und eine Hoffnung zum Schluss

Düstere Gedanken zum Ende eines düsteren Jahres; ich weiß und bitte um Entschuldigung. Ihnen wünsche ich einen guten Rutsch und uns allen Glück und Gesundheit. Hoffen wir, dass die Triage nicht in unseren Alltag einkehrt.

Auf bald in einem besseren 2022.