Essen. Impfpflicht? Maskenpflicht? War da was? Jetzt werden die entscheidenden Weichen gestellt. Der entspannte Corona-Sommer – er ist in akuter Gefahr.
Haben wir eigentlich noch alle Tassen im Schrank?
Die Corona-Inzidenzen taumeln von einem Höchstwert zum nächsten, die Hospitalisierungen nehmen zu und die Zahl der täglichen deutschlandweiten Todesfälle liegt stabil bei mehr als 200; allein in NRW hat das Robert-Koch-Institut am Dienstag 82 Fälle gemeldet, die an oder mit Corona gestorben sind; landesweit liegen zurzeit 435 Corona-Patienten auf den Intensivstationen, 226 Menschen werden beatmet. Das sind die nackten, schlimmen Zahlen – doch niemand interessiert sich mehr dafür.
Wir erleben frühlingshafte Tage, genießen, wann immer es gelingt, die Weltlage gedanklich einmal auszublenden, die Sonne und erfreuen uns an den ersten zarten Blüten an den Bäumen. Eigentlich, so war die Erwartung, so war das Versprechen, sollte die Pandemie jetzt, genau jetzt in eine Endemie übergehen. Es sollte ein entspanntes Frühjahr und ein noch entspannterer Sommer werden. Doch statt in die endemische Phase zu kommen, sind wir jetzt der traurige Corona-Europameister. Entspannt sind wir im Hinblick auf das Virus trotzdem.
Wir haben uns spontan umarmt
Auch ich, geboostert und bereits genesen, agiere längst nicht mehr so vorsichtig-ängstlich, wie ich das zwei Jahre lang gemacht habe. Neulich, als Freunde zu Gast waren, ebenfalls geboostert und genesen, haben wir uns zur Begrüßung mal wieder umarmt. Es war eine spontane Geste. Es tat gut. Aber war es auch vernünftig? Was hat sich verändert?
Da ist zunächst einmal das Virus selbst. Omikron ist sehr ansteckend, aber vergleichsweise harmlos im Hinblick auf die akute Erkrankung. Wer dreifach geimpft und nicht vorerkrankt ist, muss keine schweren oder gar lebensgefährlichen Verläufe befürchten. Das ist eine grundlegend andere Situation als im Herbst vergangenen Jahres. Das Gesundheitssystem ist bis zum heutigen Tag – Gott sei Dank! – nicht in die Knie gegangen. Auch die kritische Infrastruktur ist bislang intakt geblieben, obwohl sehr viele Menschen zeitgleich krank wurden und werden.
Alle sind krank? Voll normal!
Noch stärker verändert hat sich freilich unsere Sicht auf die Pandemie. Wer tagtäglich mit Menschen spricht, die berichten, nun auch positiv zu sein und sich in Quarantäne begeben zu müssen, der gewöhnt sich daran. Wir erleben es als Teil einer neuen Normalität, dass sich Menschen um uns herum infizieren, dass sie erkranken und dann auch wieder auf die Beine kommen. Es wirkt wie eine Erkältungswelle, und genau das wollen uns die weiterhin aktiven Quer- und Leerdenker ja auch einreden: dass es sich im Grunde nur um eine harmlose Erkältung handelt. Augen zu und durch!
Und dann ist da natürlich der Krieg. Der Krieg überlagert alles. Statt Karl Lauterbach, Hendrik Streeck und Melanie Brinkmann sitzen jetzt Militärexperten in den Talkshows. Das Entsetzen über das Leid der Ukrainer und über die wachsende Gefahr einer direkten nuklearen Konfrontation mit Putins Russland lässt keinen Raum für andere Krisen.
Putins Hammer auf unseren Daumen
Als ich mir neulich beim Kochen in den Finger geschnitten hatte, riet mir mein Sohn mit einem breiten Grinsen, ich solle mir nun mit einem Hammer kräftig auf den anderen Daumen hauen. Der größere Schmerz würde dann den anderen überlagern und somit bedeutungslos machen. Keine gute Idee, dachte ich – aber genau so ist es gerade. Putin hat uns mit einem großen Hammer auf den Daumen gehauen, und wir nehmen den Corona-Schmerz kaum noch wahr.
Um es klar zu sagen: Der Krieg vor unserer Haustür, verbunden mit einer furchtbaren Zeitenwende, was unsere langfristige Sicherheitsarchitektur in Europa betrifft, ist die akut größte Bedrohung. Es ist richtig und natürlich, dass dies unsere ganze Aufmerksamkeit erfordert. Wir sollten darum nur nicht die andere akute Bedrohung aus den Augen verlieren. So entspannt wir auch gerade im Hinblick auf Corona sein mögen: Die Corona-Lage ist leider eine ganz andere als die Corona-Stimmung.
Corona-Lage ist schlechter als die Stimmung
Das ist Klartext
Klare Kante, klare Meinung – das ist Klartext, die kommentierende Kolumne von Alexander Marinos, stellvertretender Chefredakteur der WAZ. Hier werden aktuelle politische Themen aufgegriffen und subjektiv-zugespitzt eingeordnet. Dabei handelt es sich um ein Meinungsangebot zum An- oder Ablehnen, An- oder Aufregen.Alle Folgen der Kolumne finden Sie hier.Klartext als Newsletter? Hier anmelden.
Erstens: Sollte die Durchseuchung, die wir gerade erleben, in massiver Form bei den älteren Ungeimpften ankommen, kann das unser Gesundheitssystem auch in den kommenden Wochen noch in eine schwierige Lage bringen. Zudem sollten wir bitte an die durch Krankheit Immungeschwächten denken. Zweitens: Kein Forscher kann derzeit seriös ausschließen, dass sich nach Omikron eine ebenso ansteckende, aber wieder tödlichere Variante exponentiell ausbreitet. Und drittens: Man muss immer und immer wieder an Long Covid erinnern. Dieses Phänomen ist für die meisten Menschen noch sehr abstrakt, weil es meist nicht Bestandteil alltäglicher Erfahrungen ist. Welcher vordergründig Genesene erzählt schon gerne im Bekannten- und Kollegenkreis herum, dass er nach einer Infektion dauerhaft Schlaf- und Konzentrationsprobleme hat?
In diesen Tagen diskutieren die Bundestagsabgeordneten über eine Impfpflicht in Deutschland. Diese ist, weil die FDP ideologisch agiert und die Union taktisch, politisch so gut wie tot. Dabei wäre sie angesichts einer stagnierenden Impfquote auf nicht ausreichendem Niveau notwendig. Schlimmer noch: In wenigen Tagen laufen fast alle Corona-Regeln aus. Sogar die Maskenpflicht in Innenräumen soll fallen, die maximal wirksam ist und uns zugleich nichts kostet, außer der kleinen Unannehmlichkeit, ein Stück Stoff im Gesicht zu tragen. Was für eine Idiotie! Und was für ein fürchterliches Mimimi das ist, wenn einige es jetzt als zurückgewonnene „Freiheit“ feiern, im Supermarkt wieder ungehemmt ihre Krankheitserreger verteilen zu können.
Querdenker, kämpft für die Freiheit der Ukraine!
Man muss sich das mal vorstellen: Die Quer- und Leerdenker marschieren wieder durch unsere Straßen (zuletzt war das für den vergangenen Sonntag in Ratingen geplant), um für Freiheitsrechte zu demonstrieren. In Deutschland! Angesichts des Versuchs eines russischen Diktators, sein eigenes Volk ebenso zu unterdrücken wie fremde Völker! Man möchte hingehen und diesen Leuten eine ukrainische Fahne in die Hand drücken, damit ihr Protest endlich einen Sinn ergibt.
Keinen Sinn ergibt, man muss es so klar sagen, die geplante sogenannte Hotspot-Regelung im Infektionsschutzgesetz. Der Bundesgesundheitsminister weiß das genau. Er ist selbst merklich unglücklich über die vielen Kompromisse, die er mit seinem Kollegen von der FDP, Bundesjustizminister Marco Buschmann, schließen musste. Ganz Deutschland ist ein einziger Hotspot, und es wird eher schlimmer als besser. NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst, selbst gerade wegen eines positiven PCR-Tests in Quarantäne, warnt darum zurecht vor einem Flickenteppich, wenn in einem Bundesland die Maskenpflicht gilt, in einem benachbarten anderen dagegen diese Pflicht gefallen ist. Hoffentlich kann er sich in der Ministerpräsidentenkonferenz am Donnerstag durchsetzen und das Schlimmste verhindern.
Lauterbach ist nicht mehr glaubwürdig
Überhaupt Lauterbach. Was ist aus dem seriösen, sich von der Wissenschaft leitenden Corona-Mahner geworden? Als Minister lässt er sich von Buschmann und Co. über den Tisch ziehen, muss dann offiziell FDP-Positionen verkaufen, um privat via Twitter vor der Sommerwelle und den vielen Toten zu warnen. Glaubwürdig ist das schon lange nicht mehr. Das ist sehr schade und sehr traurig. Der Preis, den Lauterbach für sein Amt zahlt, ist verdammt hoch.
Auf bald.