Essen. Omikron ist irgendetwas zwischen Monstertiger und Schmusekatze. Sich von ihrem Schnurren beeindrucken zu lassen, könnte ein fataler Fehler sein.

Kann man eine gute Nachricht nicht mal eine gute Nachricht sein lassen? Unter den Journalistinnen und Journalisten in Deutschland gehöre ich – will man diese Kategorisierung aus der Welt der Politik übertragen – sicher konsequent zum „Team Vorsicht“, wenn es um Corona geht. Umso mehr habe ich mich in den vergangenen Tagen darüber gefreut, dass namhafte Wissenschaftler, die auch nicht gerade zu den Gebrüdern Leichtsinn gehören, so etwas wie Entspannungssignale senden, und zwar ausgerechnet mitten hinein in die sich gerade aufbauende Omikron-Wand.

Könnte es sein, dass diese Wand gar nicht so schrecklich ist, wie befürchtet? Könnte es sein, dass Omikron so etwas wie den Anfang vom Ende der Pandemie markiert? Dass wir das berühmte Licht am Ende des Tunnels sehen?

„Also doch nur eine Grippe“

Leider wird die Freude schnell getrübt durch jene, die sich im kleinen Karo besonders wohl fühlen. „Corona ist also doch nur eine Grippe; habe ich doch schon immer gesagt“, dröhnt es nun aus den superhyperextragescheiten Ich-weiß-nix-aber-schreibe-was-Facebook-Fraktionen. Aber auch jene, von denen man annehmen müsste, dass sie aus etwas tieferen Tellern löffeln, reagieren mit hämischer Besserwisserei und ziehen aus ihrer Selbstüberschätzung heraus merkwürdige Schlüsse.

Das ist Klartext

Klare Kante, klare Meinung – das ist Klartext, die kommentierende Kolumne von Alexander Marinos, stellvertretender Chefredakteur der WAZ. Hier werden aktuelle politische Themen aufgegriffen und subjektiv-zugespitzt eingeordnet. Dabei handelt es sich um ein Meinungsangebot zum An- oder Ablehnen, An- oder Aufregen.Alle Folgen der Kolumne finden Sie hier.Klartext als Newsletter? Hier anmelden.

„Auf einmal klingt der vorsichtige Drosten ganz anders“, konstatiert etwa Thomas Vitzthum, politischer Korrespondent der „Welt“, im Hinblick auf einen angeblichen „Meinungsumschwung“ des omnipräsenten Top-Virologen Christian Drosten. Es präsentiere sich beinahe „ein neuer Drosten“, schreibt Vitzthum im Ton herabwürdigender Anerkennung – und erinnerte mich dabei an meinen achtjährigen Sohn, der neulich meinte, die Sonne bewege sich ja doch um die Erde. Wie er denn darauf komme, fragte ich ihn daraufhin leicht enttäuscht, ich hätte ihm das doch längst erklärt. „Ganz einfach, Papa. Die Sonne ist, bevor es dunkel wurde, hinter dem Horizont verschwunden.“

Corona hat sich verändert, nicht Drosten

Lieber Thomas Vitzthum, schon einmal auf die Idee gekommen, dass es nicht Drosten ist, der sich verändert, sondern das Virus? Dass es hier nicht um einen „Meinungsumschwung“ renommierter Wissenschaftler geht, sondern um evidenzbasierte Erkenntnisfortschritte angesichts eines dynamischen Untersuchungsgegenstandes? Sie schreiben, lieber Herr Kollege, Drosten deute an, „dass man der Natur (...) ihren Lauf lassen könnte“ und „müsse“, und verkennen dabei vollkommen, dass ihm eine solche verharmlosende Formulierung nie über die Lippen kommen würde.

Der Natur ihren Lauf lassen? Das klingt wunderschön, wenn ich auf einer Blumenwiese stehe und mir der Maiglöckchen-Duft in die Nase steigt. Wenn mich aber plötzlich ein im Zoo entlaufener, hungriger Tiger verfolgt, erhält die Metapher von der Natur, der man „ihren Lauf lässt“, einen etwas anderen Spin.

Als Tiger gestartet, als Katze gelandet?

„Ich hoffe auf eine Schmusekatze – und fürchte einen Monstertiger.“ So in etwa hatte sich Bioinformatiker und Genetiker Tulio de Oliveira, der eines der größten Sequenzierlabors Südafrikas leitet, zu Beginn der Omikron-Pandemie zitieren lassen. Ein Monstertiger, darauf deuten offenbar immer mehr Daten hin, scheint Omikron zum Glück nicht zu sein. Dass die sich aktuell explosionsartig ausbreitende Virus-Variante als Tiger gestartet und Katze gelandet ist, lässt sich allerdings auch (noch) nicht sagen.

Was sind die Fakten? Die Einweisungsraten auf den Intensivstationen in Deutschland und anderswo sind bislang nicht so dramatisch, wie befürchtet. „Vielleicht baut sich da gar nicht so ein großes Problem auf“, sagt Drosten. Dass sich eine Überlastung des Gesundheitssystems, zu dem übrigens auch andere Krankenstationen sowie die Hausärztinnen und -ärzte gehören, vermeiden lässt, kann zur Stunde jedoch niemand vorhersagen.

Evolutionärer Vorteil für das Virus

Gut und plausibel klingt auch, was der Chefvirologe der Universitätsmedizin Essen, Ulf Dittmer, jüngst zu Protokoll gegeben hat. Omikron werde sich in Sachen Gefährlichkeit und Sterblichkeit der jährlich auftretenden Grippe annähern und somit „beherrschbar“ werden. Omikron setze sich nicht in der tiefen Lunge, sondern in den oberen Atemwegen fest. Dadurch könne es sich besser verbreiten – ein evolutionärer Vorteil, den das Virus nicht mehr aufgeben werde.

Der Bremer Epidemiologe Hajo Zeeb ist derweil nicht so optimistisch. „Wir müssen immer darauf gefasst sein, dass sich Varianten ergeben, die uns einen Strich durch die Rechnung machen“, sagte er der Deutschen Presse-Agentur. Dass sich Corona mit dem Auslaufen der derzeit grassierenden Omikron-Variante ähnlich wie die gewöhnliche Grippe verhalte, sei nur eine der möglichen Entwicklungen. Noch ansteckender als Omikron könne eine neue Variante kaum werden. „Aber mit der gleichen Infektiosität und dann ungünstigere klinische Parameter, das kann es schon geben.“

Corona ist keine Grippe

Und dann ist da ja noch Long Covid, das immer wieder mal vergessen wird in der öffentlichen Diskussion. Allein die möglichen Langzeitfolgen auch nach einem milden Verlauf verbieten es, Corona und die Grippe quasi gleichzusetzen.

Strich drunter: Es gibt gute Chancen, dass wir die Pandemie hinter uns lassen. Aber es gibt so gut wie keine Chance, dass wir das Virus hinter uns lassen – in welcher Form auch immer es uns künftig begegnen wird. In die anzustrebende endemische Phase zu kommen, bedeutet, dass sich das Virus weiter in der Bevölkerung verbreitet, immer wieder einmal in lokalen Wellen auftritt, im Winter häufiger und intensiver als im Sommer. Und deswegen ist mit Omikron eine allgemeine Impfpflicht auch keineswegs vom Tisch. Nur eine hohe Impfquote gewährleistet, dass wir künftig ohne lästige, sozial und wirtschaftlich schädliche Einschränkungen, ohne Lockdowns und ohne 3G, 2G oder 2G plus, auskommen. An die Maske im Supermarkt und in Bus und Bahn können und sollten wir uns ohnehin gewöhnen.

Argumente gegen eine Impfpflicht

Zwei Argumente gegen eine Impfpflicht müssen wir uns noch anschauen. Das eine ist der Hinweis, dass die Impfungen nicht nachhaltig genug wirken, um so einen gravierenden Eingriff in die Freiheitsrechte der Impfgegner zu rechtfertigen. Tatsächlich ist es genau umgekehrt: Weil der Impfschutz so schnell sinkt und weil die Impfstoffe zwar vor schweren Verläufen schützen, nicht aber vollständig vor der Infektion und Weitergabe, ist eine besonders hohe Impfquote in der Bevölkerung wichtiger denn je, um uns vor den Auswirkungen der nächsten Corona-Wellen zu schützen.

Das andere Argument zielt auf die Sicherheit der Impfstoffe. Skeptiker verweisen auf zahlreiche Berichte von zum Teil gravierenden Nebenwirkungen, die über einen schweren Arm und/oder ein paar Erkältungssymptome deutlich hinausgehen.

„Absonderliche geistige Verrenkungen“

Beispielhaft sei der Soziologe und Historiker Alexander Zinn angeführt, der sich neulich in einem Essay für die „Berliner Zeitung“ als Impfskeptiker geoutet hat und uns Befürwortern von Impfungen vorwirft, wir könnten nicht mit unseren „kognitiven Dissonanzen“ umgehen. Was er damit meint? Wir würden Erlebnisse, die unsere Überzeugungen infrage stellen, so umdeuten, dass sie mit unseren Ansichten doch noch in Einklang zu bringen seien. Dabei würden wir die „absonderlichsten geistigen Verrenkungen“ anstellen. Beispielsweise würden wir uns der Tatsache verweigern, dass bei den Corona-Vakzinen „die Verdachtsmeldungen von schwerwiegenden Nebenwirkungen und Todesfällen um ein vielfaches höher liegen als bei anderen Impfstoffen“.

Dem möchte ich hier gerne widersprechen. Ich jedenfalls würde mich nie der Tatsache verweigern, dass „die Verdachtsmeldungen von schwerwiegenden Nebenwirkungen und Todesfällen um ein vielfaches höher liegen als bei anderen Impfstoffen“. Das ist im Gegenteil sogar sehr logisch. Zinn „übersieht“ nur einen einfachen Sachverhalt, den man eigentlich auch dann erkennen könnte, wenn man praktisch gar nicht mehr in Lage ist, sich geistig zu bewegen – von Verrenkungen ganz zu schweigen.

Eins plus eins gleich ...

Lieber Herr Zinn, eine einfache Frage: Hat es denn jemals Impfstoffe gegeben, die ähnlich wie die Corona-Vakzine milliardenfach zum Einsatz gekommen sind? Niemand hat behauptet, dass es nullkommanull Nebenwirkungen und Todesfälle geben wird, die womöglich (!) in einem kausalen Zusammenhang mit einer Impfung stehen. Es ist also einfache Eins-plus-eins-Mathematik, dass die Verdachtsmeldungen „um ein vielfaches höher liegen“.

Damit nicht genug. Zinns schlagendes Argument ist, dass er selbst seit seiner Impfung unter nicht näher beschriebenen neurologischen Problemen leide. Wohlgemerkt: „seit“, nicht „wegen“. Das habe ihn, na klar, zum „Impfskeptiker“ werden lassen. Ist ja quasi ein Naturgesetz – so klar und gesetzmäßig wie die Gleichsetzung von temporären mit kausalen Zusammenhängen. Probieren Sie es mal aus: Wenn Sie bemerken, dass dunkle Wolken aufziehen (und von denen gibt es ja gerade reichlich), dann führen Sie schnell einen Regentanz auf. Wenn es danach dann wirklich regnet, werden Ihre Kinder beeindruckt sein, denn selbstverständlich regnet es nicht nach Ihrem Tanz, sondern wegen Ihres Tanzes ...

Ich finde, wir sollten die Tassen im Schrank lassen.

Lauterbach darf sich nicht verweigern

Erstens: Es gibt Grund zur Hoffnung, dass es besser wird. Zweitens: Es ist noch nicht gut genug, um Entwarnung zu geben. Drittens: Damit es richtig gut wird, kommen wir an einer Impfpflicht nicht vorbei.

Übrigens: Als bekennender Karl-Lauterbach-Fan darf man über die Verweigerungshaltung, hierzu endlich einen eigenen Gesetzentwurf vorzulegen, durchaus enttäuscht sein. Das Bundesgesundheitsministerium ist keine NGO (Nicht-Regierungs-Organisation). Und Lauterbach ist kein einfacher Abgeordneter mehr.

Auf bald.