Essen. Ärztefunktionär Andreas Gassen will die Corona-Beschränkungen aufheben. Doch statt Freiheit droht tausenden Menschen jetzt chronische Krankheit.

Würden wir das wirklich wollen: einen Polarisierer und Wahrheitsverdreher wie Boris Johnson als Kanzlerkandidat – für mehr Pepp im Wahlkampf und anschließend mehr Spannung beim Regieren? Ich finde die gepflegte Langeweile ganz in Ordnung so. Sie spricht für ein gesundes politisches System, in dem Seriosität großgeschrieben wird. Dass ein deutscher Regierungschef hergehen und, ähnlich dem britischen Premierminister Johnson, einen „Tag der Freiheit“, einen „Freedom Day“, ausrufen könnte, an dem alle Corona-Beschränkungen fallen, ist schwer vorstellbar – zumal die Impfquote hierzulande das noch lange nicht hergibt.

Vize-Ministerpräsident Stamp wollte auch einen „Freedom Day“

Gut, vor einigen Wochen hatte der FDP-Politiker Joachim Stamp, der sich vermutlich jeden Morgen mit dem Evergreen „Looking for Freedom“ von David Hasselhoff wecken lässt, genau das getan. Doch Stamp ist zum Glück „nur“ NRW-Vize-Ministerpräsident, und sein Vorschlag, den Tag der deutschen Einheit zum Tag der Freiheit zu machen, verschwand schnell in der Ablage „P“ wie „Populismus“.

Was aber, frage ich mich, treibt nun Andreas Gassen an? Gassen ist Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und vertritt somit die Interessen der bundesweit mehr als 175.000 Ärzte und Psychotherapeuten in der gesetzlichen Krankenversicherung. Er ist in den vergangenen Wochen immer wieder einmal mit, nun ja, steilen Thesen zur Pandemie aufgefallen, die zum Teil heftigen Widerspruch in den eigenen Reihen ausgelöst hatten. In der Politik würde man liebevoll von einem „Quartals-Irren“ sprechen, den man gerne mal in eine Talkshow einlädt. Aber wenn der oberste Kassenärztechef jetzt ebenfalls einen „Freedom Day“ fordert, diesmal zum 30. Oktober und somit zum Übergang in die kalte Jahreszeit, dann ist das alles andere als lustig.

Dann möchte man ihm zurufen: Herr Dr. Gassen, lassen Sie die Tassen bitte im Schrank!

Gassen wettet auf eine höhere Impfquote

Der Ärztefunktionär, praktizierender Orthopäde und Unfallchirurg in Düsseldorf, zeigt sich derweil überzeugt, dass unser Gesundheitssystem einen solchen Schritt aushalten würde. Gassen versteigt sich sogar zu einer Wette: „Dann sind wir Ende Oktober bei einer Impfquote von 70 Prozent oder noch höher, weil sehr viele Menschen das Angebot dann doch schleunigst annehmen werden.“

Der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, der Berufsverband Deutscher Anästhesisten sowie die Gesundheitsexperten fast aller Parteien, um nur ein paar Beispiele zu nennen, wetten dagegen. Sogar in der FDP hält man es angesichts der zu geringen Impfquote für zu früh, ein konkretes Datum für einen Tag der Freiheit zu bestimmen. Nur die AfD applaudiert.

Es droht eine ganze Generation mit chronisch Kranken

Gassens Wetteinsatz ist hoch. Zu hoch. Mit Beginn der kalten Jahreszeit, wenn sich das Leben vermehrt in Innenräumen abspielt, werden die Infektionen wieder exponentiell ansteigen. Es dürfte mehr oder weniger alle Ungeimpften treffen, darunter neun Millionen Kinder unter zwölf Jahren. Hunderttausende müssen sich auf dauerhafte Beschwerden einstellen, da etwa jeder zehnte Infizierte an Long Covid leidet. Wir sprechen hier von einer ganzen Generation mit chronisch kranken Menschen. Ohne weitere Schutzmaßnahmen würde das Gesundheitssystem schnell wieder an seine Grenzen geführt mit womöglich fatalen Folgen für die gesamte Gesellschaft. Schließlich begünstigt eine ungehemmte Verseuchung von großen Teilen der Bevölkerung das Aufkommen neuer, gefährlicherer Virus-Varianten.

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Klare Kante, klare Meinung – das ist Klartext, die kommentierende Kolumne von Alexander Marinos, stellvertretender Chefredakteur der WAZ. Hier werden aktuelle politische Themen aufgegriffen und subjektiv-zugespitzt eingeordnet. Dabei handelt es sich um ein Meinungsangebot zum An- oder Ablehnen, An- oder Aufregen.Alle Folgen der Kolumne finden Sie hier.Klartext als Newsletter? Hier anmelden.

Vielleicht wäre es eine gute Idee, wenn Andreas Gassen mal nach Bremen fährt und sich vor Ort ansieht, wie man die Impfquote wirklich steigern kann. Dort hat man sich konsequent auf jene Bevölkerungsgruppen gestürzt, die keinen guten Zugang zu Impfungen haben. Das sind zum Beispiel Menschen mit Migrationshintergrund, die wenig bis kaum Deutsch verstehen und sich nur in ihrer Kulturblase aufhalten, in der alles, was vom deutschen Staat kommt oder auch nur empfohlen wird, zunächst einmal auf Skepsis stößt. Entsprechend gering war dort die Impfbereitschaft. Wir kennen das auch von vielen Stadtteilen im Ruhrgebiet.

Kleines Bremen ganz groß gegen Corona

In Bremen druckte man hunderttausende Flyer in verschiedenen Sprachen, lud zu Infoveranstaltungen ein, leistete Überzeugungsarbeit vor Ort und sorgte für niederschwellige Impfangebote. Kleinstes Bundesland ganz groß!

Mehr Impfungen und, bis dahin, eine flächendeckende Verschärfung von 3G auf 2G – was den Impfanreiz zusätzlich verstärken würde: Das ist der Weg in die Freiheit. Gassens Weg dagegen führt wieder hinein in die Katastrophe. Ohne Gesundheit gibt es keine Freiheit.

Das würde, wenn man ihn denn fragt, auch der inzwischen 69-jährige David Hasselhoff bestätigen, dessen familiäre Wurzeln bis nach Bremen führen und der in den vergangenen Jahren aufgrund von Alkoholproblemen eine Krankheit überwinden musste, die ihm viele Freiheiten genommen haben dürfte.

Auf bald.