Essen. Übers Wasser gehen kann er nicht – doch die Erwartungen an den neuen Gesundheitsminister sind riesig. Ist er zum Scheitern verurteilt?

Zu den wenigen Sendungen, die wir uns zu Hause gerne im Fernsehen ansehen, gehören die politischen Talkshows von ARD und ZDF. Insofern sitzt Karl Lauterbach schon eine gefühlte Ewigkeit lang regelmäßig bei uns mit im Wohnzimmer; er ist quasi zu einem Familienmitglied geworden. Nur so lässt sich auch erklären, dass uns die Nachricht von der Ernennung Lauterbachs zum Bundesgesundheitsminister nicht nur gefreut hat, weil nach Jens Spahn endlich ein Fachmann unser oberster Pandemie-Bekämpfer werden soll. Wir fühlten, was wirklich ungewöhnlich für so einen Vorgang ist, so etwas wie Stolz. Bundesgesundheitsminister! Unser Karl Lauterbach!

Schon jetzt ist klar, dass dieser Minister anders ist als alle anderen. Lauterbach ist nicht Teil der neuen Bundesregierung geworden, weil dies der Logik des üblichen politischen Proporzes folgt, weshalb beispielsweise der Außenpolitiker der Grünen, Cem Özdemir, plötzlich Landwirtschaftsminister ist. Nein, diesmal ging es um – Achtung! – Kompetenz statt Postengeschacher. Mehr noch: Die Entscheidungsträger in der SPD, an der Spitze Olaf Scholz, haben in geradezu unerhörter Weise aufs Volk gehört. Man könnte Lauterbach fast als ersten direkt gewählten Bundesminister bezeichnen. Das ist eine Extra-Legitimation, die Fluch und Segen zugleich sein dürfte.

#wirwollenkarl hat sich durchgesetzt

Die Bewegung #wirwollenkarl hat sich damit gegen all jene Bedenkenträger durchgesetzt, die Lauterbach für nicht ministrabel halten, weil er ihnen zu eigenwillig, zu nerdig, zu unberechenbar, zu exzentrisch, zu besserwisserisch oder sogar schlicht zu klug ist. Ja, Sie lesen richtig: zu klug. Zu klug, um sich politischen Ritualen zu unterwerfen, die Machtverhältnisse begründen und zementieren – Ritualen, die oft nicht Teil der Lösung sind, sondern Teil des Problems, wie wir in dieser Pandemie immer wieder erleben mussten.

Das ist Klartext

Klare Kante, klare Meinung – das ist Klartext, die kommentierende Kolumne von Alexander Marinos, stellvertretender Chefredakteur der WAZ. Hier werden aktuelle politische Themen aufgegriffen und subjektiv-zugespitzt eingeordnet. Dabei handelt es sich um ein Meinungsangebot zum An- oder Ablehnen, An- oder Aufregen.Alle Folgen der Kolumne finden Sie hier.Klartext als Newsletter? Hier anmelden.

Nun sind die Erwartungen an diesen außergewöhnlichen Politiker in der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung natürlich riesig. Sie sind so groß, dass sie bei nüchterner Betrachtung eigentlich nur enttäuscht werden können. Selbst wenn, was noch nicht feststeht, der Bundeskanzler und der in der Vergangenheit zuweilen querdenkende Koalitionspartner FDP dem derzeit wichtigsten Minister die notwendige Beinfreiheit lassen sollten, die er braucht: Übers Wasser gehen kann Karl Lauterbach nicht.

In dreifacher Spahn-Geschwindigkeit

Immerhin gönnt er sich anscheinend keine Verschnaufpause. Der Amtseid war noch nicht ganz gesprochen, da hatte er in dreifacher Spahn- und mindestens zehnfacher Stiko-Geschwindigkeit bereits eine Impfstoff-Inventur in seinem Ministerium angeordnet und die ersten Weichen dafür gestellt, dass das an die neue Omikron-Variante angepasste Biontech-Vakzin Deutschland möglichst schnell und ausreichend zur Verfügung stehen kann. Donnerstagabend saß er – na klar – schon wieder bei Maybrit Illner und warb eindringlich fürs Boosters, weil der volle Impfschutz erst mit der dritten Impfung gegeben sei. Und am nächsten Morgen hielt er seine erste Rede als Minister im Bundestag und sagte die nicht ungefährlichen und politisch belasteten drei Wörtchen: Wir schaffen das!

War das bereits sein erster Fehler?

Lauterbach wird natürlich Fehler machen. Und nicht wenige warten genau darauf. Die sich zum Ungeimpft-Sein bekennende Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht etwa konnte es sich schon am Tag nach der Nominierung Lauterbachs zum Minister nicht verkneifen, ihm via Twitter einen (scheinbaren) Widerspruch vorzuwerfen. Ende Oktober noch hatte er nämlich in einem Interview gesagt, eine Booster-Impfung für alle wäre jetzt „auf keinen Fall sinnvoll“. Für jüngere Menschen seien die Impfungen auch so noch gut wirksam. Kurz danach erklärte er bei Markus Lanz, jeder Erwachsene müsse geboostert werden. Jeder. Wagenknechts ätzender Kommentar dazu: „Nein zum Boostern am 31.10.2021, Ja zum Boostern am 17.11.2021, vielleicht Boostern am … Unser neuer Gesundheitsminister wird uns mit seinen klaren Ansagen zweifellos bestens durch die Corona-Pandemie bringen.“

Sarah Wagenknechts Wissenschaftsverständnis

Was Wagenknecht freilich nicht versteht oder nicht verstehen will: Wissenschaft ist ein Prozess. Erkenntnisse von heute können morgen schon Schnee von gestern sein. Spielen Schmierinfektionen bei Corona eine Rolle oder nicht? Sind Schulen Pandemietreiber oder nicht? Noch an diesem Freitagvormittag beantwortete ein Experte auf WDR 2 Hörerfragen und behauptete, vermutlich guten Gewissens, mit dem Boostern sollte man nach der zweiten Impfung sechs Monate warten. Dabei ist das seit Donnerstag überholt. Die EMA etwa empfiehlt das Boostern nach drei Monaten. Auch Lauterbach tut das. Er liest nachts die neuesten Studien. Er lernt ständig dazu. Das unterscheidet ihn von Sahra Wagenknecht, die Corona – ganz im Stil der AfD – öffentlich verharmlost und die Existenz von Long Covid in Zweifel zieht.

Vielleicht sollte sie mal mit Ehemann Oskar Lafontaine die Tassen im Schrank nachzählen, bevor sie weiteres politisches Porzellan zerdeppert.

Lauterbach wird geliebt und gehasst

Wie aber kommt es, dass Lauterbach derart polarisiert? Während manche ihn als gesundheitspolitischen Messias überhöhen, sind viele genervt – und manche entwickeln sogar ausgeprägte Hassgefühle. Monat für Monat konfrontiert Lauterbach uns alle mit unangenehmen Wahrheiten. Manche halten den schrillen Alarmismus, der da mitschwingt, für notwendig, um aufzurütteln, andere für übertrieben. Lauterbachs Intellektualität provoziert all jene, die das als Überheblichkeit oder gar Arroganz missinterpretieren. Die Angst vor dem Virus wird transformiert in Ablehnung gegen den, der die schlechten Botschaften übermittelt.

Dieses Verhaltensmuster ist uralt. Schon seit der Antike leben die Übermittler schlechter Botschaften gefährlich. In der Bibel, genauer: im zweiten Buch Samuel, wird geschildert, wie der spätere König David reagierte, als er vom Tod König Sauls in der Schlacht am Berg Gilboa erfuhr. Er ließ den Berichterstatter von einem seiner Männer erschlagen. Wer Lauterbach auf Facebook folgt, wird immer wieder einmal Zeuge perverser Mordfantasien gegen den SPD-Politiker. Ohne Personenschutz geht für Lauterbach schon lange gar nichts mehr.

Lauterbach nimmt sich gerne selbst aufs Korn

Überheblichkeit? Arroganz? Wer Lauterbach besser kennt, der schätzt seinen ausgeprägten Hang zur Selbstrelativierung und Selbstironie. Ich werde nie ein Interview im „Spiegel“ aus dem Jahr 2009 vergessen, in dem Lauterbach zu den Risiken des Grillens interviewt wurde und sich dabei selbst aufs Korn nahm. Der Spiegel stieg mit der schon nicht ganz ernst gemeinten Feststellung ein:

Herr Lauterbach, mitten im Wahljahr haben Sie öffentlich vor den Gefahren des Grillens gewarnt. Ihre Parteikollegen sind entsetzt, sie fürchten um Wählerstimmen.

Darauf Lauterbach: In der Politik hört man manchmal die Wahrheit nicht so gern. Mit Märchen wie „die Renten steigen stetig“ kommt man natürlich weiter.

Der Spiegel: Verachten Sie grillende Menschen?

Lauterbach: Nein, im Gegenteil, ich habe große Achtung vor dem deutschen Kampfgriller, er ist mir sympathisch. Ich will nur, dass er länger lebt.

Anschließend folgten Lauterbachs Gemüse-Grill-Rezepte und weitere Tipps für die gesunde Marinade.

Der Spiegel abschließend: Nirgendwo wird leidenschaftlicher gegrillt als in den Ortsvereinen der SPD. Kann es sein, dass Sie in der falschen Partei sind?

Darauf Lauterbach: Ich bin goldrichtig. Die SPD ist und bleibt die Partei der Griller! Ich will meinen Beitrag leisten, um die sozialdemokratische Grillkunst zu optimieren.

Freie Bahn für Wolfgang Kubicki

Mag sein, dass dieser humorige Rheinländer hinter dem Bundesgesundheitsminister, auf dem nun die Schwere des Amtes und die damit verbundenen Erwartungen lasten, zurücktritt. Auch wenn er schon wieder bei Illner war, werden seine Talkshow-Auftritte wohl seltener werden. Corona-Erklärer zu sein ist etwas anderes als, wie jetzt gefordert, regierungsamtlicher Anti-Corona-Manager. Lauterbach muss mehr delegieren und verstärkt im Team spielen. Er hat versprochen, genau dies zu tun.

„Die deutsche Talkshow-Szene wird jetzt häufiger auf ihn verzichten müssen. So hat alles auch sein Gutes“, unkte FDP-Vize und Lauterbach-Widersacher Wolfgang Kubicki. Hoffen wir mal, dass Kubicki nun nicht in die Lücke springt. Dampfplauderer habe ich in meinem Wohnzimmer nicht so gerne.

Auf bald.