Essen. Die Ständige Impfkommission entscheidet zu langsam und ihr Chef Mertens kommuniziert zu unseriös. Allerdings trägt er nicht an allem die Schuld.

Blank, blanker, am blankesten? Es gibt Wörter, die lassen sich eigentlich nicht steigern. Uneigentlich aber liegen die Nerven von Eltern kleinerer Kinder in diesen Tagen noch „blanker“ als im Durchschnitt der Bevölkerung. Wer Kinder unter zwölf Jahren hat, muss sich jetzt nämlich die schwierige Frage stellen, ob er sie impfen lassen will oder nicht. Was ist verantwortungsvoller? Eine Spritze mit dem für Kinder verdünnten Vakzin von Biontech/Pfizer oder, und nur das ist die realistische Alternative, eine Infektion ohne Impfschutz mit dem Corona-Virus? Nur zwischen diesen beiden Möglichkeiten besteht die Wahl.

Am liebsten würde ich jetzt schreiben: In der Haut dieser Eltern möchte ich nicht stecken. Tatsächlich aber stecken meine Frau und ich in genau dieser Haut. Wir haben mit Kinderärzten gesprochen, viel gelesen und zur Kenntnis genommen, dass namhafte Virologen und Epidemiologen zur Impfung der Kinder raten. Was uns nicht geholfen hat, ist die Stiko, die Ständige Impfkommission. Auf ihr wieder einmal sehr spätes Urteil hatten wir gewartet und gehofft. Doch dieses Urteil hat keine Klarheit gebracht, sondern nur noch mehr Unsicherheit. Meine Zweifel an der Zuverlässigkeit der Stiko sind einmal mehr gewachsen.

Purer Zynismus eines entrückten Forschers?

Im Grunde ist der Chef der Stiko, Thomas Mertens, bei mir schon seit seinem denkwürdigen Auftritt bei „Markus Lanz“ vor einigen Wochen unten durch. Damals gerieten ihm, ganz zerstreuter Professor, ein paar Zahlen durcheinander, und er wusste nicht mehr, ob 32 Kinder mit Corona auf den Intensivstationen lägen oder doch eher gestorben seien, oder gar 35 – um das Rätselraten dann mit einem „Ist egal!“ abzuschließen. Ist „egal“? Nun kann man darüber streiten, ob das der pure Zynismus eines entrückten Forschers war und damit ein verstörend-empörender Vorgang.

Oder hatte da jemand kurzzeitig mal nicht alle Tassen im Schrank, was man unter Umständen entschuldigen könnte? Ist egal.

Nahezu unentschuldbar war jedoch dieses: Mertens, sonst immer darauf bedacht, lästige Ungeduldige auf spätere offizielle Verkündungstermine der Stiko hinzuweisen, plauderte, halbwegs entspannt bei Lanz im Sessel sitzend, so nebenbei die alles entscheidende Information aus: dass sein Gremium bald das Boostern für alle Erwachsenen empfehlen werde. So geht seriöse Kommunikation in der Pandemie – nicht!

Mertens ist ein Wiederholungstäter

Mertens ist in dieser Hinsicht ein Wiederholungstäter. Nein, er würde ein zum Beispiel sieben Jahre altes Kind nicht impfen lassen, wenn er als Vater entscheiden müsste, hatte Mertens am 3. Dezember in der „FAZ“ freimütig zu Protokoll gegeben, noch bevor die Stiko sich dazu offiziell einige Tage später äußerte. Offiziell hieß es dann: Vorerkrankte Kinder zwischen fünf und elf Jahren sollten geimpft werden, gesunde Kinder nur auf Wunsch und nach ärztlicher Aufklärung. Was, bitte, sollen Eltern gesunder Kinder mit diesem Hin und Her, mit diesem Wischiwaschi anfangen?

Die europäische Arzneimittelbehörde EMA hatte bereits am 25. November grünes Licht für die Impfung mit Biotech für Kinder ab fünf Jahren gegeben. Auf nationaler Ebene folgten Italien, Spanien und Portugal. Die Stiko verweist auf eine angeblich nicht ausreichende Datenlage, um ihr Zögern und Zaudern zu begründen. Doch allein in den USA wurden schon fünf Millionen Kinder zwischen fünf und elf Jahren geimpft. Über schwerwiegende Nebenwirkungen ist bislang nichts bekannt. Ähnliche Berichte kommen aus Israel und Kanada. Worauf wartet die Stiko noch? Alle schalten im Hinblick auf Omikron Blaulicht ein, auch und gerade die neue Bundesregierung, die eine Impfung für alle Kinder empfiehlt – während die Stiko stur die Rettungsgasse blockiert.

Schnelligkeit geht vor Langsamkeit

Gründlichkeit geht vor Schnelligkeit? Ein guter Satz, der immer dann seine Berechtigung hat, wenn der Schaden, der aus Langsamkeit resultiert, überschaubar ist. Doch genau das ist nicht der Fall. Wir kennen den Schaden für unsere Kinder und uns selber nicht, der eintritt, wenn Schulen und Kindertagesstätten mit Omikron durchseucht werden. Wir wissen auch nicht, welche Langzeitschäden Kinder davontragen, die sich infizieren. Was wir aber wissen, ist, dass es bislang noch nie einen Impfstoff gegeben hat, dessen Nebenwirkungen sich erst Jahre später zeigten. Das ist der Unterschied. Impfung oder Infektion ist eben nicht die Wahl zwischen Pest und Cholera.

Das ist Klartext

Klare Kante, klare Meinung – das ist Klartext, die kommentierende Kolumne von Alexander Marinos, stellvertretender Chefredakteur der WAZ. Hier werden aktuelle politische Themen aufgegriffen und subjektiv-zugespitzt eingeordnet. Dabei handelt es sich um ein Meinungsangebot zum An- oder Ablehnen, An- oder Aufregen.Alle Folgen der Kolumne finden Sie hier.Klartext als Newsletter? Hier anmelden.

Anfang Dezember hatte Thomas Mertens im ARD-Magazin „Panorama“ eine weitere seiner Erleuchtungen und sagte überraschend selbstkritisch, dass es „wahrscheinlich günstiger gewesen“ wäre, „mit dem Boostern früher anzufangen“. Wohl wahr. Allerdings wäre es wahrscheinlich noch günstiger gewesen, Mertens hätte auf das relativierende „wahrscheinlich“ verzichtet. Wären ähnliche Gremien im Ausland so langsam wie die Stiko, gäbe es zu keinem Zeitpunkt eine ausreichende Datenlage, auf die sich die Stiko irgendwann überhaupt berufen kann. Der Faktor Dringlichkeit scheint bei ihr keine Rolle zu spielen.

Die Stiko ist nur ein Feierabendgremium

Worüber wir dringend sprechen müssen, und dafür können Mertens und seine Stiko ausnahmsweise nichts, ist die personelle Ausstattung dieses Schlüsselgremiums in der Corona-Krise. Die Runde besteht nämlich nur aus 12 bis 18 Experten, die zudem ehrenamtlich tätig sind, also quasi „nach Feierabend“. Der neue Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach will auch dieses Problem schnell anpacken. Warum das einem Jens Spahn zuvor nicht längst eingefallen war, darüber kann nur spekuliert werden. Irgendwann in den kommenden Monaten werden die Versäumnisse Spahns aufgearbeitet werden müssen. Die Liste ist lang und wird immer länger. Wir werden ihm viel verzeihen müssen.

Unsere Kinder übrigens, fünf und acht Jahre alt, werden am Montag erstmals geimpft. Leicht gemacht haben wir uns diese Entscheidung nicht. Aber wir haben sie letztlich guten Gewissens getroffen. Fast möchte ich wetten, dass die Stiko in einigen Wochen zu der Erkenntnis kommen wird, dass es für alle Kinder zwischen fünf und elf Jahren empfehlenswert ist, geimpft zu werden.

Kümmern Sie sich um Ihre Enkel!

Bei den 12- bis 17-Jährigen war es ähnlich. Nein, er würde seine – gesunden – Enkel nicht impfen lassen, hatte Mertens im Juli gesagt. Im August dann aktualisierte die Stiko ihre Empfehlung und empfahl die Impfung prompt für alle Kinder zwischen 12 und 17. Danke, Mertens!

Meine Empfehlung an Sie: Kümmern Sie sich um Ihre Enkel und treten Sie zurück! Es ist dringlich.

Auf bald.