Moskau. Jeder fünfte männliche Todesfall in Russland ist auf Alkoholmissbrauch zurückzuführen, doch nur wenige Russen wenden sich an die Anonymen Alkoholiker. Stattdessen wählen sie lieber eine Hypnose-Therapie oder lassen sich eine Kapsel unter die Haut transplantieren, die bei Alkoholkonsum körperliches Unbehagen auslösen soll.

22 Entziehungskuren hat Andrej durchgestanden. Doch egal ob sie einen Monat dauerten oder ein halbes Jahr, früher oder später griff der 58-jährige Russe wieder zur Flasche. Vor 14 Jahren unternahm er einen neuen Versuch, trocken zu werden: Er schloss sich den Anonymen Alkoholikern (AA) an - mit Erfolg.

Statt auf Maßregelung wie die Ärzte setze die Selbsthilfeorganisation auf Eigenverantwortung, sagt Andrej. Dieser Ansatz habe ihn überzeugt. In der Zeit der Perestroika Ende der 1980er Jahre gründeten sich auch in Russland erste Selbsthilfegruppen nach der aus den Vereinigten Staaten stammenden Methode der Anonymen Alkoholiker.

Geringe Resonanz

Heute gibt es im ganzen Land 400 Gruppen mit 10.000 Mitgliedern - erstaunlich wenig für ein Land mit 143 Millionen Einwohnern und weit verbreitetem Alkoholmissbrauch. "Die AA-Gruppen haben in Russland wenig Erfolg", sagt Alexander Nemzow vom Psychiatrischen Institut in Moskau. "Und das, obwohl 2,5 Millionen Russen als alkoholabhängig gemeldet sind und jeder zweite russische Mann regelmäßig zu viel trinkt."

Der Suchtexperte erklärt die geringe Resonanz mit der unterschiedlichen Mentalität. "Dieses amerikanische Programm, das extrem extrovertiertes Verhalten innerhalb einer Gruppe erfordert, läuft der russischen Mentalität zuwider", sagt Nemzow. "Außerdem verlangt das AA-Programm, an sich selbst zu arbeiten, wohingegen die Russen bei ihrer Behandlung lieber passiv bleiben."

Alkoholiker soll sich schuldig fühlen

Russische Alkoholiker wählen häufig Hypnose-Therapien, bei denen ihr Unterbewusstsein eine Abneigung gegen Alkoholisches entwickeln soll. Auch beliebt ist die Therapie, bei der eine Kapsel unter die Haupt implantiert wird, deren Inhalt beim Patienten angeblich körperliches Unbehagen auslöst, sobald er Alkohol trinkt.

Die russischen Methoden setzten darauf, dass der Alkoholiker sich schuldig fühle und bedauere, sagt Ex-Trinker Andrej. Bei ihm habe dieser Ansatz das Gegenteil bewirkt: "Das hat mich davon abgehalten aufzuhören." An den Anonymen Alkoholikern habe ihm gefallen, dass Alkoholmissbrauch als Krankheit und nicht als Sünde betrachtet werde.

Hilfe bei der orthodoxen Kirche 

Einfach war das Aufhören dennoch nicht. "Am Anfang fand ich es schrecklich, meine Lebensgeschichte vor 20 anderen Alkoholikern zu erzählen", sagt Andrej, der wegen Raubüberfalls neun Jahre im Gefängnis saß. Außerdem hätten ihn die Treffen, bei denen Tee getrunken und anschließend gemeinsam aufgeräumt wird, an Subbotniks erinnert, die kollektiven samstäglichen Arbeitseinsätze der Sowjetzeit.

Inzwischen fühle er sich jedoch wohl bei den Zusammenkünften, die zwei- bis dreimal wöchentlich in einem Keller im Zentrum Moskaus stattfinden. Nicht wenige russische Alkoholiker suchen Hilfe bei der orthodoxen Kirche. "Ich bin zu den AA gegangen und traute meinen Ohren nicht. Die kennen keinen Gott und sagen, dass sie den Alkoholismus selbst besiegen," schreibt ein orthodoxer Christ in einem Blog. "Dann bin ich zurück zur Kirche. Die besiegen ihn mit Beten und Fasten. Warum also das Rad neu erfinden?"

Fatalistische Einstellung zum Trinken

Einige Gruppen der Anonymen Alkoholiker treffen sich dennoch in Kirchengemeinden, und 2010 bezeichnete die Kirche die US-Methode als "effektives Instrument, Süchtige zu rehabilitieren". Jeder fünfte männliche Todesfall in Russland sei auf Alkoholmissbrauch zurückzuführen, heißt es in einem Bericht der Weltgesundheitsorganisation (WHO) von 2011. Im Schnitt trinkt jeder russische Mann 35,4 Liter reinen Alkohol im Jahr.

Viele Russen haben eine fatalistische Einstellung zum Trinken oder bewundern Alkoholiker in gewisser Weise, indem sie die Sucht als Kehrseite eines großen Talents betrachten. Die russische Literatur ist voll von solchen Figuren. "In Russland wird Trinkern traditionell viel Verständnis entgegen gebracht", sagt Wladimir, der mit Hilfe der Anonymen Alkoholiker vor 18 Monaten dem Alkohol abschwor. "Der russische Mann trinkt, um die Ungerechtigkeit des Seins ertragen zu können." (afp)