Essen/Hamm. . Die 20 Jahre alte Studentin aus Hamm in Westfalen stand kurz davor, sich zu Tode zu hungern. Auf dem Tiefpunkt ihrer Erkrankung wog sie nur noch 29 Kilo. Jetzt hat sie ihre Tagebuchaufzeichnungen zu einem Buch gemacht. Als geheilt fühlt sie sich noch lange nicht.

Die Eiswürfel raubten ihr den Schlaf. Schlaf, den sie so dringend benötigt hätte, doch wer hungrig ist, kann nicht schlafen, und um die im Eis eingeschlossenen Kuchenkrümel oder Joghurtreste lutschen zu können, dauerte es eben. In den akuten Phasen ihrer Magersucht schlief Hanna-Charlotte Blumroth vom Lehn erst um vier Uhr morgens ein, um drei Stunden später wieder aufzustehen mit dem ersten Gedanken des Tages, wie sie sich am besten vor dem Frühstück drücken könnte.

Vor mehr als vier Jahren begann Hannas Krankheit, deren einzelne Phasen sie in ihrem Tagebuch festhielt, und bis heute ist sie nicht geheilt: „Vielleicht muss man lernen, damit zu leben“, sagt sie. Um das Vergangene, vielleicht auch das Zukünftige besser verarbeiten zu können, hat die Studentin aus dem westfälischen Hamm ihre Aufzeichnungen in einem Buch veröffentlicht, dass bezeichnenderweise „Kontrolliert außer Kontrolle“ heißt.

Magersucht oder Anorexia Nervosa, wie es in der Fachsprache heißt, ist eine sogenannte „Körperschemastörung“. Die Angst, dick zu werden, ist tief im Bewusstsein verwurzelt und beherrscht das übrige Leben. Als Freundinnen, Lehrer, die Mutter sowieso, besorgt ihren Gewichtsverlust kommentierten, sah Hanna in den Spiegel und befand sich „allenfalls recht schlank, niemals aber dünn.“ Da war ihr Gewicht bereits unter die 40-Kilo-Marke gerutscht. Und sie aß weiter so gut wie nichts.

Trennung der Eltern, als sie klein war

Hanna wurde 1991 in München geboren. Als sie noch klein ist, trennen sich ihre Eltern, die Mutter zieht mit Hanna und ihrem Bruder zurück zu den Großeltern nach Hamm. Hanna sagt, sie habe eine glückliche Kindheit gehabt. Aber frei von Turbulenzen war sie nicht. Die Mutter heiratete erneut, zwei weitere Geschwister werden geboren, dann kommt es wieder zur Trennung.

Hanna ist 16, da sterben kurz hintereinander der leibliche Vater und der Großvater. Die Verluste, die Turbulenzen der Pubertät, die Probleme der Familie - wenn schon die Welt um einen herum auseinanderfliegt, so könnte man doch wenigstens versuchen, seinen eigenen Körper zu kontrollieren.

Hanna ist unglücklich und unzufrieden. Sie findet sich häßlich. Und zu dick. Sie geht nicht mehr auf Partys, treibt dafür aber exzessiv Sport. Ihre Freundinnen treffen sich zum Essen, trinken Cocktails. Hanna erlaubt sich höchstens Mal eine Cola light. „Meine Freundinnen“, so schildert sie, „haben eigentlich die ganze Zeit zu mir gehalten“. Sie sei diejenige gewesen, die sich zurückgezogen habe: „Zeitweise habe ich mir gesagt, die sind ja nur neidisch, weil ich mich so im Griff habe…“

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Es ist ein Würgegriff. Hanna fühlt sich gut, wenn andere essen, und sie nicht. In der Familie gibt es morgens Streit ums Essen, mittags Streit ums Essen, abends Streit ums Essen. Es gewinnt immer Hanna, und es fließen viele Tränen. Der Hausarzt befreit Hanna vom Sportunterricht, die Lehrer sind besorgt, die Mutter versucht verzweifelt, sie zu einer Therapie, zu einem Klinikaufenthalt zu bewegen. Nach einer tränenreichen Auseinandersetzung um ein Knäckebrot geht Hanna freiwillig in die Uniklinik Münster, es wird der erste von vier Klinikaufenthalten in drei Jahren sein. Sie wiegt 37 Kilo.

Das Hungern gibt ihr Halt

„Gebracht hat es damals nichts“, sagt sie heute. Weil sie nicht gesund werden will. Nicht zunehmen will. Weil die Magersucht ihr Halt gibt. Als sie wieder zu Hause ist, geht alles von vorne los. Schnell sind die wenigen Kilos wieder weg, die sie in der Klinik zugenommen hat. Hanna tummelt sich kurzfristig sogar auf Internetforen, wo sich Magersüchtige gegenseitig Tricks verraten, wie man das Essen wegschummeln kann. Doch da hat sie den richtigen Instinkt. Sie begreift, dass ihr das noch mehr schadet.

Trotz Fehlzeiten von einem Jahr, trotz körperlichem Abbau und Konzentrationsschwächen macht die ehrgeizige Hanna Abitur, um danach den tiefsten Punkt ihrer Krankheit zu erreichen – 29 Kilo.

Sie macht sich öffentlich. Geht zu Stefan Hallaschka von Stern TV und spricht über ihre Sucht, bekommt viel Zuspruch. Sie lässt professionelle Fotos von sich machen, weil sie, im Gegensatz zum Spiegelbild, dort besser erkennen kann, wie dünn sie eigentlich ist. Morgens sitzt sie wie eine alte Frau auf ihrem Bett und wartet auf den richtigen Moment, um aufzustehen. Eines Tages kippt sie auf dem Weg ins Bad immer wieder um.

Auf dem Weg ins Badezimmer umgekippt

Noch einmal geht sie in die Klinik, diesmal nach Bayern, in die Schön-Klinik Roseneck. Gewichtsmäßig schlägt die Behandlung an - bis auf 40 Kilo. Und sonst? „Man braucht schon Hilfe“, sagt Hanna. „Aber man muss es auch irgendwie wollen.“ Und - mit einem Seitenhieb auf das allgegenwärtige Schönheitsideal: „Wir haben im Fernsehen die Models gesehen. Und uns gefragt, warum die dünn sein dürfen, während wir zunehmen müssen.“

Das war vor einem Jahr. Hanna-Charlotte Blumroth vom Lehn hat Hunger aufs Leben, auf neue Freunde, einen festen Freund, und vielleicht auf ein Studium der Kinder- und Jugendpsychologie. Immer noch isst sie nur abends, Kohlenhydrate gar nicht, sondern Salat und Gemüse – aber immerhin sind das 100 Prozent mehr als früher. Zuhause in Hamm will sie eine Ernährungsberatung machen. „Ich will einfach wissen, was ein Mensch zum Leben so eigentlich braucht!"