Washington/Baltimore. Nach 36 Stunden Operation ist einem 150-köpfigen Ärzte-Team die weltweit bisher umfassendste Gesichtstransplantation gelungen. Der Patient Richard Lee Norris hatte nach einem Waffen-Unfall 15 Jahre lang isoliert hinter einer Maske gelebt. Eine Woche nach dem Eingriff konnte er wieder sprechen.

Als Richard Lee Norris am 20. März in der Trauma-Chirurgie der Universität von Maryland in Baltimore die Augen aufschlug, wollte er nur eins: in den Spiegel schauen. Natürliche Reaktion eines Mannes, der aus tiefer Scham 15 Jahre isoliert hinter einer Maske lebte, nachdem er sich bei einem Waffen-Unfall Stirn, Nase, Kinn, Lippen, Zunge und Zähne weggeschossen hatte. Ein 150-köpfiges Spezialisten-Team um Chefarzt Dr. Eduardo D. Rodriguez hat dem 37-Jährigen aus Hillsville/Virginia nach jahrelangen akribischen Vorbereitungen nun das zurückgegeben, was jeder Mensch braucht, um in die Welt zu sehen und gesehen zu werden. Ein Gesicht.

In einem 36 Stunden langen Operations-Marathon verpflanzten die US-Chirurgen das Antlitz eines Toten dahin, wo bei Norris nach zwölf langwierigsten Eingriffen ein schmerzhaft zusammen genähtes Nichts klaffte. Die weltweit 23. Gesichtstransplantation ist nach Schilderungen von Dr. Rodriguez die bisher „mit Abstand umfassendste“. 2005 betrat die von ihrem Hund entstellte Französin Isabelle Dinoire medizinisches Neuland. Erst 2008 zog Amerika mit Connie Culp in Cleveland/Ohio nach, die von ihrem Gatten furchtbar zugerichtet worden war.

Der Operierte sieht nicht aus wie der Spender

Bei dem am 3-D-Computer millimetergenau geplanten Eingriff wurden Norris, der als Highschool-Schüler ein gut aussehender junger Mann war, neben der Haut fast alle Knochen vom Unter- bis zum Oberkiefer, mimische Muskeln, Gesichtsgewebe sowie Blutgefäße und Nerven ersetzt; dazu Nase, Lippen, Zähne und ein Teil der Zunge.

Wie der Spender, dessen Organe weiteren fünf Menschen das Leben retteten, wird der zuletzt arbeitslose Amerikaner trotzdem nicht aussehen. Dafür entscheidet sich das Erscheinungsbild eines Menschen-Gesichtes zu sehr an der individuellen Form von Knochen, Muskeln und Bindegewebe. Auch deshalb, berichtete Dr. Rodriguez am Dienstag auf einer Pressekonferenz in der Hafenstadt an der amerikanischen Ostküste, wurde dem Patienten vor dem Eingriff kein Foto des Spenders gezeigt. Richard Lee Norris soll überhaupt nicht erst auf die Idee kommen, er sähe aus wie ein Toter.

Bereits nach einer Woche konnte der Patient wieder sprechen und riechen

Gemessen am Umfang der Operation, mutet es beinahe wie eine Sensation an, dass der Patient bereits nach einer Woche erste Worte sprechen, sich rasieren, die Zähne putzen konnte und seinen lange verschütteten Geruchssinn wieder gefunden hat. Sein erster Kommentar zum neuen Aussehen: „Cool!“ Aus früheren Transplantationen, so Rodriguez, wisse man, dass es mitunter ein Jahr dauern kann, bis das Gesicht wieder komplett auf Kälte, Wärme und Berührung reagiert, bis Lächeln und Lachen einigermaßen natürlich wirken. Die psychologische Facette – wie lebt man eigentlich mit einem fremden Gesicht, wird die Persönlichkeit eine andere? – bleibt einstweilen außen vor. Noch dominiert das rein Physische.

Transplantierte müssen meistens lebenslang Medikamente einnehmen

Die zentrale Frage lautet, wie eine Abstoßung des fremden Gewebes verhindert werden kann. Transplantierte müssen in der Regel lebenslang starke Medikamente einnehmen, die für die körpereigene Abwehr wie eine Zwangsjacke wirken. Chefarzt Rodriguez stellt seinem prominentesten Patienten eine gute Prognose. „Die Verletzung hat alles zerstört, während Freunde und Kollegen geheiratet und Familien gegründet haben. Richard Lee Norris will das jetzt nachholen.“

Halten sich die Langzeit-Komplikationen im Rahmen, wollen die Förderer, die für die Forschung über die Jahre 13 Millionen Dollar bereitgestellt haben, weitere Transplantationen finanzieren. Das Verteidigungsministerium in Washington, Hauptgeldgeber der kostspieligen Operation, geht davon aus, dass allein 200 schwer verletzte Soldaten aus den Kriegen im Irak und in Afghanistan nur darauf warten, bald in den Spiegel sehen zu können. Und in ein neues Gesicht.