Berlin. .

Depression, Migräne, Tinnitus oder Lähmungen nach Schlaganfall. Helfen soll eine neue Methode: die transkranielle Magnetstimulation. Die langfristige Wirkung ist jedoch bisher nicht nachgewiesen. Die Anbieter preisen es jedoch als neues Wundermittel an.

Die Hoffnungen sind enorm: Das Verfahren soll bei Depression helfen, bei Migräne, bei Tinnitus oder bei Lähmungen nach einem Schlaganfall. Kaum eine andere Technik wird von Medizinern so intensiv beforscht wie die transkranielle Hirnstimulation (TMS). Jeden Monat erscheinen Dutzende Studienresultate in Fachjournalen, doch ausgereift ist die Methode noch längst nicht. Dennoch preisen manche Anbieter die TMS als Wundermittel gegen alle möglichen Beschwerden.

Magnetfelder sollen Neuronen stimulieren oder hemmen

Die Geschichte der transkraniellen Magnetstimulation beginnt im 19. Jahrhundert: Damals legte der französische Physiker Jacques-Arsene d’Arsonval sich selbst und anderen Menschen gewaltige Starkstromspulen um den Kopf. Unter Einfluss der Magnetfelder sahen die Probanden Lichtphänomene, erlitten Schwindelanfälle und wurden nicht selten ohnmächtig.

Ein Jahrhundert später folgte die Renaissance des verfeinerten Verfahrens: Mit kleinen leistungsfähigen Spulen stimulierte der Medizinphysiker Anthony Barker von der Universität Sheffield in den 1980er Jahren einzelne Areale der Großhirnrinde - und startete damit den bis heute andauernden Boom. Bei dem völlig schmerzfreien Verfahren sollen Magnetfelder unterschiedlicher Stärke unter der Schädeldecke einzelne Neuronenverbände je nach Bedarf entweder stimulieren oder hemmen.

Zwar wirkt die Technik, die gut verträglich ist und abgesehen von Epilepsie kaum Kontraindikationen hat, nur bis maximal drei Zentimeter unter die Schädeldecke. Aber in diesem oberflächlichen Bereich erzielen die Impulse erstaunliche Effekte. Über den motorischen Kortex gehalten, lassen die Spulen Finger zucken, über dem visuellen Kortex lösen sie Lichterscheinungen aus, und über dem sogenannten Broca-Areal sorgen sie für Sprachstörungen.

Magnetstimulation unterstützt die Diagnose von Multiple Sklerose

Fest etabliert hat sich die TMS bereits in der Hirnforschung und Diagnostik. „Mit dieser Methode können wir bestimmte Regionen hemmen oder für kurze Intervalle ganz ausschalten“, sagt der Neurologe Friedhelm Hummel vom Uniklinikum Hamburg-Eppendorf. „So lässt sich kausal testen, welche Funktion ein Areal hat.“ Zudem hilft die Magnetstimulation bei der Diagnose bestimmter Erkrankungen wie Multipler Sklerose.

Die Therapie soll künftig auch gegen Depressionen eingesetzt werden. Bisher gibt es aber nur widersprüchliche Studien. (Bild: Imago)
Die Therapie soll künftig auch gegen Depressionen eingesetzt werden. Bisher gibt es aber nur widersprüchliche Studien. (Bild: Imago) © imago stock&people

Aber damit ist das Potenzial nach Ansicht von Experten noch längst nicht erschöpft. Seit etwa zehn Jahren rückt die therapeutische Anwendung immer stärker in den Fokus von Medizinern - etwa gegen Depression, Tinnitus, Migräne, chronische Schmerzen oder Lähmungen nach einem Schlaganfall. „Die transkranielle Magnetstimulation wird gerade an etlichen neuropsychiatrischen Erkrankung erprobt“, sagt Hummel.

Aber während sich Finger relativ leicht zum Zucken bringen lassen, gestaltet sich die Therapie komplexer Störungen ungemein schwierig, deren Ursachen sich nur schwer orten lassen. Beispiel Depression: Zur Behandlung der Schwermut erteilten die US-Behörden dem Verfahren vor zwei Jahren die bisher einzige therapeutische Zulassung. Aber trotz dieser Lizenz bezweifeln manche Experten, dass die Hirnstimulation derzeit ein ausgeprägtes Stimmungstief langfristig bessern kann. Die zwar vielen, aber meist kleinen Studien zum Nutzen des Verfahrens lieferten bislang widersprüchliche Resultate.

Größere Hoffnungen legen deutsche Forscher in die Therapie von Schlaganfall-Patienten. Anders als bei der Depression lassen sich hier die betroffenen Hirnregionen recht gut ermitteln. Bei Menschen mit Lähmungen oder Sprachstörungen soll die Stimulierung dieser Areale - etwa in Kombination mit konventioneller Therapie - die Rehabilitation verbessern. Etliche ermutigende Fallbeispiele und erste Studien stützen diese Hoffnung. Aber ob ein breit angelegter Einsatz der Hirnstimulation auch großen Patientengruppen hilft, weiß derzeit niemand. „Der Nachweis für eine langfristige Wirkung fehlt bisher“, sagt der Neurologe Roland Sparing von der Uniklinik Köln.

Hirnstimulation ist kein Wundermittel

Trotz der fehlenden klaren Wirknachweise preisen auch in Deutschland manche Arztpraxen die TMS fast schon als Allheilmittel an. Die angeblich „schonende Naturheilmethode“ helfe nicht nur bei Depression, Tinnitus und Schmerzen, sondern wahlweise auch gegen Parkinson- und Alzheimer-Krankheit, Panikattacken und Burnout-Syndrom, Multiple Sklerose und Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Selbst gesunde Menschen, so wird verkündet, könnten von dem Verfahren profitieren und damit ihr Gehirn entweder zu Höchstleistungen anspornen oder wahlweise zu Tiefenentspannung herabregulieren.

Solche vollmundigen Versprechungen sind - trotz des Potenzials der Hirnstimulation - alles andere als seriös. „Es gibt Beispiele für eklatanten Unsinn“, sagt der Neurophysiologe Walter Paulus, der an der Uniklinik Göttingen die transkranielle Stimulation mit Hilfe von Gleichstrom zur Schmerzbehandlung erforscht. „In Deutschland ist die Therapiefreiheit sehr groß.“ Die seriöse therapeutische Anwendung der Verfahren - ob mit Magnetfeldern, Gleich- oder Wechselstrom - steht dem Experten zufolge erst am Anfang: „Um die Stimulation zu optimieren, muss man noch besser verstehen, was im Gehirn passiert.“ (dapd)