Plowdiw. . Plowdiw ist die zweitgrößte Stadt Bulgariens. Zu Tausenden kehren die hier lebenden Roma der Stadt den Rücken, um nach Dortmund zu ziehen. Dortmund leidet unter dem Zuzug, es geht um Kriminalität und Prostitution.

Sechs Straßen mit heruntergekommenen Plattenbauten. Das ist im Viertel Stolipinovo in der südbulgarischen Großstadt Plowdiw das, was sie die „Dortmunder Blocks“ nennen.

Tausende leben in den tristen Beton-Bauten, die Satellitenschüsseln vor kaputten Fenstern und Müll auf den Fluren. Wie viele Menschen hier genau leben, weiß niemand. Im ganzen Viertel Stolipinovo sollen es 40 000 sein. Meist Sinti und Roma oder Türken mit bulgarischen Pässen. Die schmucke Altstadt von Plowdiw am Fluss Maritza scheint von hier unerreichbar.

In den Häusern leben Hühner und Pferde

Es gibt in den Blocks kein fließendes Wasser – sieht man vom Grundwasser ab, das aus den Kellern auf die Gassen drückt. Es stinkt fürchterlich. Der Abfall wird nicht entsorgt. Müll fliegt einfach vom Balkon auf die Straße. Plastik, vergammeltes Gemüse, Kondome. Nur in der Mitte der Fahrbahn ist ein schmaler Streifen freigehalten, damit die wenigen Autos durchkommen. In einigen Appartements werden Hühner und sogar Pferde gehalten. Mitten im Winter spielen Kinder barfuß im Matsch. Kaum einer spricht bulgarisch. Die meisten können nur Türkisch oder Sinti.

Jede Familie aus den „Dortmunder Blocks“ hat Verwandte im Ruhrgebiet. Schritt für Schritt sieht man die Dinge sich wandeln. In Stolipinovo gibt es kein Hospital, kein Kino, kein Café, aber seit ein paar Wochen gleich drei Büros der „Western Union” – direkt neben den „Dortmunder Blocks“. Über die Büros der Union kann man Bargeld von Land zu Land schicken, ohne ein Konto zu haben. Bis zu 40 Überweisungen treffen hier in jedem „Western Union”-Büro am Tag aus Deutschland ein, berichtet ein Banker. Oft 200 Euro und mehr.

Kaum einer will über die Quelle des Geldflusses reden. Doch es ist klar: Frauen werden zu Prostituierten, Männer betätigen sich als Zuhälter oder brechen ein. „Manche Männer zwingen ihre Frauen auch dazu, auf den Strich zu gehen“, sagt Yashar Asan, der Besitzer eines Ladens in der Nachbarschaft. Kaum einer mag darüber offen sprechen.

Frauen verkaufen ihren Körper für 10 Euro

Es heißt, die Frauen in Stolipinovo würden ihren Körper für 10 Euro verkaufen. Das erscheint wenig, doch ist es fast das Doppelte von dem, was ein Mann am Tag verdienen kann. Rund um den Marktplatz „Skobeleva maika“ stehen Prostituierte. Hier ist es noch ein wenig billiger. Und gefährlicher. Aus der Türkei werden Drogen nach Stolipinovo gebracht. Und umgeschlagen. Ein Teil wird vor Ort verkauft. Der Rest wird weiter transportiert. Die Polizei von Plowdiw sagt, besonders Mädchen würden dazu gebracht, Drogen zu verkaufen – oder ihren eigenen Körper.

Die Elendsspirale ist lang. Nach dem Ende des Kommunismus haben fast alle Sinti und Roma ihre Jobs verloren. Die meisten von ihnen können keine neuen finden, weil sie keine Schulbildung haben. Nur zwei Menschen aus ganz Stolipinovo haben einen Universitätsabschluss. Die meisten Frauen können nicht lesen oder schreiben. Sie waren nie in einer Schule. In der Regel werden sie mit 13 oder 14 Jahren verheiratet und bekommen von da an Kinder. Falls jemand überhaupt Arbeit findet, dann am ehesten in der bulgarischen Stadtreinigung. Maximal 150 Euro springen dabei im Monat raus. Das ist kaum genug für die Miete und etwas zu essen. Genug Motivation also, woanders sein Glück zu suchen. Aus Stolipinovo schwärmen die Menschen über ganz Europa aus. Die Sinti und Roma fahren nach England, Spanien und Frankreich. Und seit den Abschiebungen nach Dortmund.

Schulden für das Ticket

Es ist nicht das erste Mal, dass sie aus Stolipinovo ins Ruhrgebiet fahren. Schon kurz nach der Wende fanden etliche hier Arbeit als Handlanger. Einige kamen mit einem neuen Auto und mit Bargeld zurück nach Bulgarien. Dort verließen sie Stolipinovo und bauten sich Häuser in den angrenzenden Dörfern. Im Zuge der Wirtschaftskrise haben nun viele Sinti und Roma ihre Handlanger-Jobs auf dem Balkan verloren. Sie erinnern sich an die früheren Erfolge in Deutschland und kehren zurück. Nadya Taneva, Leiterin der Sozialeinrichtungen von Plowdiw, sagt: „Die Sinti und Roma leben hier in engen Familienverbänden. Wenn einer woanders hingeht, und Geld macht, folgen ihm die anderen. Sie wissen, in Dortmund können sie erfolgreich sein. Die Legende lebt.“

Für die Fahrt müssen sich viele Sinti und Roma verschulden. Das Ticket im Mini-Bus kostet 50 Euro. Eine neue Elendsspirale beginnt, berichtet der Ethnologe Asen Kolev. Patrone der Clans würden Geld zu Wucherzinsen verteilen und später Schulden eintreiben. Wer nicht zahlen kann, muss seine Kinder oder Frauen ausliefern und auf den Strich schicken. Die Clans hätten auch in Dortmund fast alles im Griff. Sie sorgen dafür, dass Geld an die Patrone fließt. Diese haben schillernde Namen wie „Zar Kiro“ und leben in Palästen nur wenige Kilometer außerhalb von Plowdiw. Um ihre Leute kümmern sie sich kaum.

Trotz allem schätzt Ethnologe Kolev, dass noch im März bis zu 2000 weitere Sinti und Roma nach Dortmund kommen. Denn die Legende vom reichen Ruhrgebiet lebt im armen Stolipinovo.