Hagen. .
Zivilcourage ist selten. Der Altenaer Harald Giemsa griff ein, als er sah, wie eine fremde Frau vor seinem Wagen von einem Mann angegriffen wurde. 20 andere Autofahrer waren in der Nähe. Geholfen hat sonst aber niemand.
Alles geschah ganz plötzlich und unerwartet, so wie das Außergewöhnliche immer ohne Vorankündigung in unser Leben tritt.
Harald Giemsa (48) wartete in seinem Auto vor der roten Ampel an der Kreuzung Elberfelder Straße/Graf-von-Galen-Ring, als auf einmal eine Frau direkt vor ihm über die Straße lief. Ihr folgte ein Mann, nein - der Mann jagte die Frau, und auf der nächsten Verkehrsinsel holte er sie ein und schubste sie in vollem Lauf und brachte sie zu Fall. Dann schlug er mit der Faust auf sie ein. „Er schlug ihr mitten ins Gesicht“, erinnert sich Harald Giemsa, und schon war er aus dem Auto hinaus. Er zerrte den Mann, der in einer Art unbändiger Wut weiter auf sein am Boden liegendes Opfer einschlug, von der Frau weg, er hatte ihr bereits ein Auge blutig geschlagen und war kaum zu bändigen.
Frau zeigte sich nicht gerade dankbar
Aber irgendwie gelang es Harald Giemsa, der gerade 1,77 Meter groß ist und 75 Kilo wiegt, den viel stärkeren Mann zurückzuzerren. „Ich weiß auch nicht, wie ich das geschafft habe. Ich habe geschrien, er solle ruhig bleiben, aber er tobte und drückte mich gegen mein Auto. Mein Gott, dachte ich, wofür machst du das, jetzt hast du eine Beule im Auto. In so einem Moment geht einem so vieles durch den Kopf.“
Und die Frau, sie zeigte sich keineswegs dankbar, im Gegenteil, sie versuchte, die gewendete Lage auszunutzen und schlug nun ihrerseits nach dem Mann, den Harald Giemsa immer noch festhielt. Sie fluchte unterirdisch und spuckte, und Giemsa, der zwischen die Fronten geraten war, forderte andere Autofahrer zum Eingreifen auf. An die 20 Wagen standen mittlerweile vor der Ampel, die längst auf Grün und wieder auf Rot gesprungen war, aber niemand stieg aus. Niemand eilte der Frau, die der Mann inzwischen wieder in seinen Klauen hatte, zu Hilfe. Immerhin rief jemand die Polizei an, doch als die Beamten eintrafen, war es Giemsa noch einmal gelungen, den gewalttätigen Mann zu packen und endgültig zu stoppen.
Harald Giemsa ist Finanzmanager, in Anzug und Schlips berät er seine Kunden, abends sitzt er wohl wie andere Leute vor dem Fernseher, guckt „Aktenzeichen XY...“ und mag sich schon manches Mal gefragt haben, wie er wohl reagieren würde, wenn er Zeuge einer Gewalttat würde.
Instinktmäßig gehandelt
Dass er Zivilcourage besitzt, wusste er vielleicht selbst nicht, jetzt weiß er es. Er habe keine Angst verspürt, als er der Frau zu Hilfe geeilt sei, berichtet er, er habe „instinktmäßig“ gehandelt. Aber dass die vielen anderen Zeugen in ihren Autos sitzen blieben, er kann es nicht fassen: „Diese Gleichgültigkeit. Wenn die Situation weiter eskaliert wäre, wenn er die Frau halb tot geschlagen hätte. Man macht sich doch schuldig, wenn man nicht eingreift.“
Der Polizei gelang es, die blutende Frau, die den Graf-von-Galen-Ring hinauf geflüchtet war, ausfindig zu machen und ihre Personalien aufzunehmen. Sie verzichtete auf eine Anzeige gegen ihren Peiniger. Sie war, wie sich herausstellte, nicht allzu schwer verletzt. Aber darum geht es nicht. Es geht darum, dass sie schwer verletzt hätte sein können. „Grundsätzlich freuen wir uns, wenn Menschen anderen Menschen, die Opfer eines Verbrechens sind, helfen“, lobt Polizeisprecher Ewald Weinberger das Verhalten von Harald Giemsa. „Zivilcourage ist wichtig, das ist gar keine Frage.“ Und wenn sich jemand nicht traue einzugreifen, was bisweilen verständlich sei, zumal wenn ein Gewalttäter bewaffnet oder groß und schwer wie ein Schrank sei, aber: „Zum Handy greifen und die Polizei anrufen, das ist das Mindeste, das jeder tun kann“, findet Weinberger.
An die 20 Wagen, und keiner stieg aus. Harald Giemsa kann sie immer noch nicht fassen, diese Gleichgültigkeit.