Duisburg.

Auf der Loveparade wurde Janine Marsollek eingequetscht, begraben unter Menschen. Sie musste Gesicht an Gesicht mitansehen, wie eine Frau starb. Nun kämpft sie mit anderen Opfern für ihr Recht.

Eigentlich ist sie eine Kämpfernatur. Aber gestern, in der ambulanten Chirurgie des Johanniter-Krankenhauses, da ging plötzlich nichts mehr. Die Tränen rannen ihr über die Wangen und sie flehte: „Sie müssen mich aus dem Wartezimmer rausschaffen. Ich krieg da keine Luft!” Zweieinhalb Stunden hatte sie warten müssen. Und währenddessen füllte sich der Raum, wurde es stickig. Vor sechs Wochen, bei der Massenpanik auf der Loveparade, war Janine Marsollek unter einem Berg von Menschen begraben worden, unter ihr, Gesicht an Gesicht, starb eine junge Frau. Jetzt, im Krankenhaus, war das Gefühl dieser tödlichen Enge wieder da.

Die 30-Jährige sieht aus wie man sich einen weiblichen Technofan vorstellt. Mund, Nase und Zunge sind gepierct, an Hand und Unterarm prangen Tattoos, und das schwarze, lange Haar hat sie mit einer getigerten Schleife hochgebunden. Doch für Techno schwärmte sie nur als Teenie. Wäre sie also bloß nicht zur Loveparade gegangen! Nun sitzt sie da in ihrem adretten, weinrot gestrichenem Wohnzimmer, ihr linkes Bein bis zum Oberschenkel in einer massiven Schiene. Bei der Katastrophe, unter der Last der Masse, ist ihr Schienbeinkopf gebrochen, diverse Bänder des Knies sind gerissen, mehrere Rippen angeknackst.

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© WAZ FotoPool

Janine Marsollek ist einer der 511 Menschen, die bei der Loveparade mindestens körperliche Schäden davongetragen haben. Und sie gehört zu jenen rund 30 Opfern, die sich, vertreten von der Düsseldorfer Kanzlei des ehemaligen Innenministers Gerhart Baum, zusammengeschlossen haben, um für ihr Recht zu kämpfen. Denn ihr Weg, das wissen sie, wird ein langer sein. Allein die juristische Klärung, wer Verantwortung trug, an wen Ansprüche zu stellen sind, wird vermutlich Jahre dauern. „Für ihre Rechte zu kämpfen, damit sind die einzelnen Geschädigten überfordert”, sagt Jürgen Hagemann, der die Initiative der Opfer begründete. Auch Hagemanns 16-jährige Tochter Virginia wurde auf der Loveparade schwer verletzt.

Er überredete mich: Jay, komm doch!

Das Leben hat es mit Janine Marsollek tatsächlich oft nicht gut gemeint. Vor eineinhalb Jahren starb plötzlich, ohne Vorerkrankung, ihr Mann, ihre große Liebe. Sie blieb zurück mit dem dreijährigen Kane. Vor Schock, vor Trauer erlitt sie, im fünften Monat schwanger, eine Fehlgeburt. Sie verfiel in Depressionen, ließ sich psychologisch betreuen. Nur langsam gewann sie wieder Boden unter den Füßen. An diesem 24. Juli wollte die junge Frau zum ersten Mal wieder ausgehen. Ein Freund hatte Geburtstag, und der wollte ausgerechnet auf der Loveparade feiern. „Ich wollte da eigentlich nicht hin, aber er überredete mich: Jay, komm doch!”

Janine brachte ihren Sohn Kane zu den Schwiegereltern und zog los, morgens schon, mit zehn, zwölf Freunden. Nette Fotos gibt es von ihnen. Die 30-Jährige nahm sie mit dem Handy auf, auch sich selbst, cool, mit großer, schwarzer Sonnenbrille. 13.08 Uhr war das. Um 16.23 Uhr schießt sie noch ein Foto im Tunnel, von der Menge vor sich. Irgendwann, zwischen 16.45 und 16.50 Uhr erreicht sie in einer kleinen Gruppe die Rampe, den Platz, der vielen bald den Tod bringen sollte.

„Es war plötzlich so eng. Superheftig. Nichts ging mehr. Einem blondem Mädchen neben mir, 16 oder 17 mag sie gewesen sein, habe ich gesagt: Wenn Du fällst, bist Du tot! Und sie sagte: Ich will nicht sterben, ich will zu meiner Mutter!” Sie selbst habe in diesem Moment, in der Enge, in der Masse, gedacht, sie komme da nicht mehr raus. Versuchte zum Handy in ihrer Tasche zu greifen, ihren Sohn anzurufen. Aber da ging nichts mehr. Sekunden später verlor Janine Marsollek den Boden unter den Füßen, stürzte auf eine junge Frau, wurde selbst unter unzähligen Menschen begraben. Das Gewicht raubte ihr die Luft, sie sah die junge Frau unter sich noch sterben, danach verlor sie selbst das Bewusstsein.

Am Zopf im Menschenhaufen erkannt

Freunde erkannten sie später in dem Menschenbündel an ihrem Zopf und zogen sie heraus. Janine Marsollek hat überlebt. Schwer verletzt und womöglich traumatisiert. Sechs Wochen nach der Katastrophe schmerzen ihre Rippen wie am ersten Tag. Ob sie mit dem lädierten Knie jemals wieder rennen kann, ist offen. Ihr Sohn lernt gerade Fahrrad fahren, sie könnte nicht mal nebenher humpeln.

Gleich nach der Operation, nachdem sie aus dem Krankenhaus entlassen wurde, stellte sie Anzeige gegen den Veranstalter, gegen Lopavent und andere. Und sie stellte einen Behindertenantrag. Die Soforthilfe der Landesunfallhilfe zahlte ihr innerhalb von vier Tagen 500 Euro pro Tag, den sie im Krankenhaus verbracht hat. Immerhin. Doch was werden wird, sie weiß es nicht. Fünf Jahre lang war sie verheiratet. Der Tod ihres Mannes war die erste Katastrophe, diese nun kam obendrauf. Ihr geht es nicht gut, das kann man sehen. Doch ihrem Sohn zuliebe, das weiß sie, muss sie wieder Lebensmut gewinnen. Nur für ihn, sagt sie.