Enniskillen. Der idyllische Tagungsort Enniskillen stand einmal für den Terror der IRA. Nun treffen sich dort bald die G-8-Staaten. Es ist das größte diplomatische Ereignis, das Nordirland je ausgerichtet hat.
Scheinwerferlicht an für ein Aschenputtel-Märchen aus dem Königreich: In wenigen Wochen blicken die Fernsehkameras zum Nordrand Europas, wo ein Dorf im schönsten Nirgendwo die wichtigsten Politiker der Welt empfängt. Der G8-Gipfel im Juni in Enniskillen ist das größte diplomatische Ereignis, das Nordirland je ausgerichtet hat. Und weil es hier so viele Aschenputtel gibt, sind die Hoffnungen auf 48 Stunden Ruhm ganz besonders groß: Die Provinz will zur Prinzessin werden.
Vorbei an Wiesen mit weißen Lämmern, entlang grüner Hügel und Ginsterhecken geht es westwärts, immer weiter, bis, ja, bis man sich im Königreich nicht weiter westlich von London davon machen könnte. In Enniskillen, dem Anti-London, ist man stolz auf diesen Superlativ. 1957 ist am Bahnhof der letzte Zug abgefahren, seitdem herrscht hier noch mehr Ruhe. Es ist ein Landstrich für Menschen, die vor Hatz, Technik und Stress auf der Flucht sind – und definitiv nicht erreicht werden wollen.
Hotel-Angestellte der Ohnmacht nahe
Wie Premier David Cameron diesen abgeschiedenen Winkel gefunden hat, bleibt selbst Bewohnern ein Rätsel. Was man weiß: Im Lough Erne Hotel musste am Tag der frohen Botschaft sehr spontan Sekt ausgeschenkt werden, um die 180 aufgeregten Angestellten vor einer Ohnmacht zu bewahren.
Seit jenem Anruf vergangenen November gibt es hier, am Tagungsort, kein anderes Thema mehr: In welche Suite zieht Barack Obama? Wird er Golf spielen? Soll man Angela Merkel schon vorab eine Wanderkarte schicken? Und wer im Hotel beherrscht genügend Etikette für die Delegation aus Japan?
Die Abgeschiedenheit des Lough Erne Resorts ist genau das, was Cameron für den Gipfel gesucht hat: ein sicherer, leicht zu schützender Ort. Für die unvermeidbare Schar Kapitalismusgegner wird es eine entmutigend weite Anreise – und ihr Krawalle stören hier höchstens Habicht und Eichhörnchen. Die Halbinsel samt Staatschefs wird abgeschottet, der idyllische Binnensee für Angler gesperrt. Neben Militärhubschraubern sind drei Drohnen der Polizei die einzigen fremden Flugobjekte über dem Schilf.
Enniskillen soll eine optimistische Geschichte erzählen
Über 10.000 Beamte sind im Einsatz, wenn nach dem 12. Juni der Sicherheitsring um Enniskillen in der größten Operation seit Schutz der Olympischen Spiele geschlossen wird. Der Verkehr fließt über Umleitungen, Schulen verlegen Mathe-Klausuren. Das Hotel mit seinen Polit-Promis verschwindet dann ebenfalls in „The Bubble“. Zur „Bubble“ hat 48 Stunden lang niemand Zutritt, aber alle hoffen, dass die Staatschefs da mal rauskommen. Im Ort ein Pint Bier trinken, vielleicht im Antiquitätenshop bei Evelyn und David ein Mitbringsel kaufen. Hauptsache, sie erhaschen einen Blick auf das neue Nord-Irland.
Denn die Einsamkeit des Luxus-Hotels ist nur ein Aspekt. Vor allem will Premier Cameron der Welt einen Landesteil präsentieren, der sich langsam aus dem harschen Griff des Hasses zwischen Katholiken und Protestanten befreit. Die Bilder aus Enniskillen sollen eine optimistische Geschichte erzählen: US-Präsident Barack Obama etwa wird in Belfast landen, wo das neue Titanic-Museum wieder Leben in das lang abgewickelte Werftenviertel lockt. Statt vor grauen Häusern im Schatten jener Mauern, mit denen das verfeindete Belfast heute Frieden wahrt, wird der US-Präsident in der kantig-coolen Innenstadt zu sehen sein.
Tagungsort steht für IRA-Anschlag von 1987 mit elf Toten
Auch Enniskillen war bislang vielen nur ein Begriff, weil die IRA hier 1987 eines ihrer blutigsten Attentate verübt hat: Bei einer Gedenkfeier für Gefallene aus den Weltkriegen sprengte sie elf Menschen in den Tod. „Diese Tat schändet die Kriegstoten und beschmutzt die Menschheit“, erzürnte sich die damalige Premierministerin Margaret Thatcher. Der Anschlag kostete die IRA weltweit Unterstützung, 1997 entschuldigte sie sich dafür. Das letzte Opfer des Enniskillen-Horrors starb im Jahr 2000 – nach über einer Dekade im Koma.
Es sind genau diese Geschichten, die man im Ort nicht mehr hören möchte. „Die Leute hier haben ein Elefantengedächtnis“, sagt Robert Gibson, „doch sie haben aus der Erfahrung auch gelernt: Ein solcher Konflikt ist weder gesund noch zukunftsweisend.“ Der Tourismus- und Freizeitbeauftragte der Bezirksverwaltung will das Image von Enniskillen durch den G-8-Gipfel endlich korrigieren – „freilich ohne die Vergangenheit wegzuretuschieren.“
Das Produkt ist heute „die Natur“
Statt an den Nordirland-Konflikt sollen die Menschen nach seinem Wunsch an das denken, was die Gegend heute prägt: den atemberaubenden Golfplatz am Hotel, entworfen vom berühmten Nick Faldo; die Hechte im Lough Earne; den letzten Ort Europas, an dem es sich so richtig durchatmen lässt. Ihr Produkt sei heute „die Natur“, nicht Sprengstoff, betont Gibson.
Und falsch ist das nicht: Wer den Weg abläuft, den auch Barack Obama im Juni mit seinem Golfschläger ziehen wird, der findet sich auf Brücken durch honigfarbenes Schilf, hält an weißen Birken-Wäldchen und staunt über das skandinavische Flair zwischen Binnensee und Wolken. Doch die Vergangenheit lässt sich selbst hier, fern von Belfast, einfach nicht zum Schweigen bringen. Erst am 23. März hat die Polizei wenige Meilen vom G8-Hotel entfernt eine Autobombe von IRA-Dissidenten entschärft. Dass der Sprengsatz nicht explodiert ist, war wie immer Glück.
Zehn Millionen Euro Einnahmen erwartet
Wenn man Brendan Hegarty, Geschäftsführer der Bezirksregierung, mit der Frage konfrontiert, ob Enniskillen vor diesem Hintergrund nicht der beste, sondern vielmehr der denkbar schlechteste Ort für einen G8-Gipfel ist, winkt er energisch ab. Wenn alles gut geht, dann ist das Mega-Ereignis die Chance des Lebens für dieses Dorf am Rande Europas. Über 400 000 Euro an Fördermitteln hat der Bezirk jetzt schon für einen „Frühjahrsputz“ kassieren dürfen.
Auf den Landstraßen liegt glatter, frischer Asphalt, 144 Schandflecke und Bauruinen wurden mit frischer Farbe aufgemöbelt. Rund zehn Millionen Euro soll die Gegend in den nächsten Wochen durch das Gipfel-Geschäft einnehmen, 50 weitere Millionen prophezeit ihr die Barclays Bank aus zukünftigen Tourismus-Erlösen. Enniskillen hofft, dass zwei Tage Ruhm sein Schicksal komplett wenden. Dass die Welt in Zukunft die grünen Wiesen von Lough Earne vor Augen hat, wenn sie an Nordirland denkt, nicht die Straßenschlachten von Belfast.
Froh über den Gipfel-Zirkus
Auch in der Tagungsherberge, wo Manager Adrian McNally sich gerade mit einer Tasse Kaffee für den Countdown wappnet, bereitet man sich auf den geschichtsträchtigen Auftritt vor. Das Service-Personal ist schon jetzt angewiesen, 120 Prozent zu geben. Die Wellness-Oase im Keller, komplett abgebrannt am Tag vor der Stippvisite des Premierministers, funkelt nagelneu. Im Konferenzsaal blitzen neun üppige Kronleuchter, nebenan warten der offene Kamin und ein Klavier auf die Staatschefs. Im Garten-Salon servieren Kellner englischen Nachmittagstee, draußen stapft die xte Sicherheitsdelegation mit prüfendem Blick über den Rasen.
Auch für den Hotel-Manager geht es um viel: Das einzige Fünf-Sterne-Hotel in Nord-Irland ist, so schick es daher kommt, Opfer der geplatzten Immobilienblase Irlands und seit Mai 2011 in Konkurs. Ein Käufer wird dringend gesucht. Auch deshalb ist McNally froh über den Gipfel-Zirkus. „Wir haben uns frisch gemacht, Lippenstift aufgelegt und das Ballkleid aus dem Schrank geholt“, sagt er mit einem Lächeln. Im Hintergrund summt eifrig die Bohnermaschine übers Parkett. Das kleine Enniskillen ist verzweifelt bereit für seinen größten Auftritt.