Washington. Seine Rede zur Lage der Nation war mit Spannung erwartet worden. US-Präsident Barack Obama zog kämpferisch die Trennlinie zwischen seiner Politik und den Republikanern. Ein Kommentar von Dirk Hautkapp.
Gutes Timing, die Gnade des richtigen Augenblicks, ist vor allem Fortüne. US-Präsident Barack Obama war das Glück bei seiner dritten "Rede zur Lage der Nation" so hold wie lange nicht. Ausgerechnet als der Amtsinhaber unmissverständlich den Kampf gegen die Ungleichbehandlung von Reich und Arm zu seinem zentralen Wiederwahlkampf-Thema erklärte, muss ein republikanischer Möchtegern-Herausforderer blank ziehen. Mitt Romneys wenige Stunden zuvor durch Zwang veröffentlichtes Eingeständnis, als Multi-Millionär einen Steuersatz auf sein Vermögen zu bezahlen, der obszön weit unter dem liegt, was ein hart arbeitender Normalverdiener zu entrichten hat, macht die Konfliktlinien mit Blick auf den Wahltag am 6. November klar und deutlich.
Da jene (Republikaner), die den amerikanischen Traum von gleichen Start- und Aufstiegschancen für alle zuschanden geritten haben und verblendet bis trotzig auf Selbstheilung setzen. Hier die anderen (Demokraten), die den "american dream" mit einem staatlichen flankierten Wiederaufprozess reparieren wollen. So viel präsidiales Kontrastprogramm war selten. Aber die Vereinigten Staaten waren auch noch nie so uneinig.
Kopfschütteln mit Abscheu
Die beiden großen Parteien kämpfen seit Monaten im Kongress einen an Politik- und Arbeitverweigerung heranreichenden Stellungskrieg, über den außerhalb Washingtons nur mit Abscheu der Kopf geschüttelt wird. Obama hat lange versucht, die Nation getreu seines Versprechens von 2008 zu einen. Er ist, neben eigenen Fehlern, immer wieder an der demagogisch aufgeladenen Betonfraktion innerhalb der Republikaner gescheitert. Die Haltung, fest an das Gute zu glauben, auch im politischen Widersacher, hat Obama nun endgültig abgelegt.
Sein Kurswechsel hin zur Konfrontation ist riskant, denn ohne die Kooperationsbereitschaft von Repräsentantenhaus und Senat ist jeder Präsident nur die Fassade von Macht, aber letztlich ohne Alternative. Der Ruf nach Wiederherstellung der über viele Jahre systematisch von der Geburt bis zum Tod zunichte gemachten Chancengleichheit im Land der angeblich "Freien", trifft gerade bei unabhängigen Wählern auf einen immer größeren Resonanzboden. Sie entscheiden die Wahl. Die “Occupy Wall Street”-Bewegung ist nur die aktuellste Ausdrucksform dafür.
Die Mehrheit hat durch täglich erfahrene Härten begriffen, dass sich institutionell geschaffene Benachteilung nicht selber reguliert. Und das jene, die falsche Weichenstellungen oder Wildwest-Methoden korrigieren wollen, nicht zwangsläufig Klassenkämpfer sind. Ertüchtigung des Bildungssystems, Wiedergewinnung von Arbeitsplätzen, Sanierung des Steuersystems, rationalere Energieversorgung, sozial abgefederte Gesundheitsversorgung, faire gesellschaftliche Lastenverteilung - Obama hat in seiner Rede eine Vorstellung davon abgeliefert, wie die Dinge vielleicht in ein, zwei Jahrzehnten zum Besseren zu wenden wären.
Mit der Umwandlung Amerikas in einen umverteilenden Zentralstaat nach europäischem Modell hat das nichts zu tun. In diese Denunzierung flüchten sich die Republikaner mangels tauglicher Alternativen. Sie haben zurzeit nicht mehr zu bieten, als die Forderung nach noch radikaleren Ausgabenkürzungen des Staates, die den sozialen Graben absehbar noch breiter machten, und einen potenziellen Herausforderer, der lächerlich geringe Steuern für sich und die anderen oberen Zehntausend noch weiter senken möchte. Eine Garantie für Obamas Wiederwahl ist das beileibe nicht. Aber ein Anfang.