Wien. Falsche Taktik oder fehlende Tugenden? Nach der sechsten Niederlage des Jahres suchen die DFB-Verantwortlichen nach Gründen.

Vor zwei Tagen saß Rudi Völler wieder bei Waldemar Hartmann. Der Sportdirektor der deutschen Fußball-Nationalmannschaft gab dem mittlerweile 75 Jahre alten Moderator ein 30-Minuten-Interview, das auf dem als rechtskonservativ eingeschätzten Portal „Nius“ ausgestrahlt wurde. Ein Gespräch, das für Irritationen sorgte. Das aber vor allem an Völlers legendäre Wutrede vor 20 Jahren auf Island erinnert, als dem damaligen Bundestrainer im Gespräch mit Hartmann nach einem 0:0 auf Island der Kragen platzte. „Die Geschichte mit dem Tiefpunkt und noch mal ein niedrigerer Tiefpunkt. Ich kann diesen Scheißdreck nicht mehr hören“, wütete Völler live in der ARD.

Die zweite Niederlage im vierten Spiel für Bundestrainer Julian Nagelsmann

Es hätte nicht viel gefehlt und Völler wäre am späten Dienstagabend erneut in seine damalige Wortwahl verfallen. Der 63-Jährige redete sich in Rage, als er im Erdgeschoss des Ernst-Happel-Stadions von Wien den vorläufigen Tiefpunkt der Nationalmannschaft erklären sollte. Die DFB-Auswahl hatte soeben mit 0:2 (0:1) in Österreich verloren. Nur drei Tage nach dem 2:3 in Berlin gegen die Türkei. Es war bereits die zweite Niederlage im vierten Spiel für den neuen Bundestrainer Julian Nagelsmann und die sechste Niederlage im elften und letzten Länderspiel des Jahres 2023. Oder wie Völler sagen würde: der Tiefpunkt vom Tiefpunkt.

„Wir können uns das nicht gefallen lassen“, schimpfte Völler schließlich über die Art und Weise, wie sich die deutsche Mannschaft in Österreich präsentiert hatte. Technisch, taktisch, spielerisch, kämpferisch – der DFB-Auswahl fehlte es an allem. Und das in allen Mannschaftsteilen.

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DFB-Sportdirektor Völler vermisst die deutschen Tugenden

Für Völler ist die Krise der Nationalmannschaft in erster Linie mit fehlender Emotionalität zu erklären. „Ich weiß, das ist immer ein Begriff, der strapaziert wird, aber uns fehlen ein bisschen die deutschen Tugenden.“ Das ist insofern eine interessante Erkenntnis, als dass Ex-Bundestrainer Joachim Löw sich erst vor wenigen Wochen im Podcast „Spielmacher“ vehement gegen genau diese Ursachenforschung gewehrt hatte. „Wir haben uns seit 2018 von der Weltspitze entfernt, weil uns manche Dinge fehlen. Das sind aber nicht die Tugenden wie Kampf, Einsatz und Laufbereitschaft, sondern wir müssen im technischen und taktischen Bereich wieder ein ganz anderes Fundament schaffen. Da müssen wir den Anschluss finden“, sagte Löw.

DFB-Sportdirektor Rudi Völler (rechts, hier im Vizepräsident Hans-Joachim Watzke) kritisiert die fehlende Emotionalität der Nationalelf.
DFB-Sportdirektor Rudi Völler (rechts, hier im Vizepräsident Hans-Joachim Watzke) kritisiert die fehlende Emotionalität der Nationalelf. © Sebastian El-Saqqa / firo Sportphoto | Sebastian El-Saqqa

Sein Nach-Nachfolger Nagelsmann saß um kurz vor Mitternacht im ersten Stock des Wiener Stadions und versuchte zu erklären, woran es liege, dass Deutschland zwar einige Weltklasse-Einzelspieler habe, aber von der Weltspitze mittlerweile weit entfernt ist. „Ich habe schon das Gefühl, dass wir noch zu viele Einzelkämpfer sind. Jeder ist mit sich beschäftigt“, sagte der 36-Jährige.

Nagelsmann muss nach nur vier Wochen einsehen, dass die Probleme in der Nationalmannschaft tiefer liegen, als er sich das vorgestellt hatte. Das führte ihm sein ehemaliger Förderer Ralf Rangnick in Wien schonungslos vor Augen. Österreich ist nicht mehr nur auf Augenhöhe, sondern aktuell an Deutschland vorbeigezogen. Die ÖFB-Elf überzeugte mit einem klaren Konzept, einer klaren Spielweise und einer klar erkennbaren mannschaftlichen Geschlossenheit.

Nagelsmanns Idee ist vorerst gescheitert

In der deutschen Mannschaft ist dagegen nichts klar. In den vergangenen zwei Jahren versuchten erst Flick und nun Nagelsmann immer wieder aufs Neue, eine passende Struktur für die zweifelsfrei vielen guten Spieler zu finden. Doch auch Nagelsmann wirkte nach seiner zweiten Niederlage innerhalb von drei Tagen ratlos. Seine Idee, die besten Einzelspieler auch alle in ein System zu pressen, unter anderem mit Kai Havertz als halben Linksverteidiger, ist zunächst gescheitert. „Natürlich hat jeder Trainer erstmal die Hoffnung, okay, wenn du fünf Zauberer hast, die wuppen dir das vielleicht. Und die wuppen es auch normal, wenn wir das Vertrauen haben“, sagte Nagelsmann.

Doch insbesondere die vermeintlichen Zauberer zeigen, dass ihnen im Zusammenspiel jegliche Magie verloren geht. Künstler wie Havertz, Leroy Sané, Ilkay Gündogan, Serge Gnabry, Florian Wirtz, Julian Brandt oder Joshua Kimmich finden bislang in keiner Formation zueinander. Das stimmt auch Nagelsmann hinsichtlich der EM 2024 nachdenklich. „Vielleicht brauchen wir mal zwei Prozent weniger Talent, und dafür zwei Prozent mehr Arbeiter“, sagte der Bundestrainer, der die kommenden dreieinhalb Monate bis zu den nächsten zwei Länderspielen im März nutzen will, um sich genau diese Grundsatzfrage zu stellen.

Auch Hummels kann die deutsche Defensive nicht stabilisieren

Die richtige Antwort zu finden, ist nicht leicht. Schließlich hat die deutsche Mannschaft aktuell nicht die Spielertypen, die in die Rolle des emotionalen Leaders schlüpfen könnten. Dass die Routiniers Mats Hummels und Thomas Müller, die Löw vor vier Jahren aussortiert hatte, nun wieder Führungsaufgaben übernehmen sollen, sagt vieles über den Zustand im deutschen Fußball aus. Für Stabilität in der Defensive konnte auch Rückkehrer Hummels nicht sorgen. 22 Gegentreffer kassierte Deutschland in diesem Jahr in elf Spielen. Schlechter war die Nationalmannschaft zuletzt 1956. „Wir sind keine Verteidigungsmannschaft“, sagte Gündogan.

Den Überblick immerhin hat er: Mats Hummels beim Spiel der Nationalmannschaft gegen Österreich in Wien.
Den Überblick immerhin hat er: Mats Hummels beim Spiel der Nationalmannschaft gegen Österreich in Wien. © Getty Images | Alexander Hassenstein

Aber was ist diese Mannschaft dann? Wofür steht die Nationalelf im Jahr 2023? Welchen Fußball will sie spielen? „Die Probleme sitzen tiefer. Es ist ja auch viel vorgefallen in den vergangenen Jahren“, sagte Stürmer Niclas Füllkrug und deutete damit an, dass die Negativerlebnisse seit dem ersten WM-Vorrundenaus 2018 die Spieler blockieren könnten. Dazu passte der Frust, der sich bei Sané entlud, als er sich kurz nach der Halbzeit zu einer selten dämlichen Undiszipliniertheit hinreißen ließ und nun für drei Spiele gesperrt werden könnte. Sané entschuldigte sich zunächst in der Kabine und nahm dann auch öffentlich die Schuld für die Niederlage auf sich.

Mühsame Suche nach Lösungen für die Probleme der Nationalmannschaft

Doch diese Aktion stand am Ende nur stellvertretend für die vielen Probleme, die Nagelsmann lösen muss. „Wir sind ein Haufen klasse Fußballer, darüber müssen wir nicht reden“, sagte Hummels, ehe er als letzter deutsche Spieler in den Mannschaftsbus stieg. Seine letzten Worte um Mitternacht: „Es geht darum, die klassischen deutschen Tugenden anzunehmen.“

Da waren sie am Ende also doch wieder, die typischen Tugenden. Völler ist sich jedenfalls sicher, dass die großen Probleme in der Nationalmannschaft kurzfristig bis zur EM nur über diesen Weg zu lösen sind. „Es wird uns nur gelingen, eine gute EM zu spielen und die Menschen wieder auf unsere Seite zu ziehen, wenn wir das machen, was die Türken und die Österreicher gemacht haben.“ Mit anderen Worten: Kämpfen, laufen, grätschen. Genau das hatte Deutschland im Testspiel gegen Frankreich vor acht Wochen unter Interimstrainer Völler gemacht. Vielleicht ist die Lösung für die komplex wirkenden Probleme am Ende eben doch ganz einfach.

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