Essen/Voerde.

Früher war alles weniger. Man trank Pils oder Alt und im Notfall auch Kölsch. In Bayern hatten sie ihr Weizen und wer es mal exotisch wollte, suchte sich einen Händler, der Bockbier im Angebot hatte. Das war's. Heutzutage trinkt der Kenner Biere, die India Pale Ale heißen oder Barley Wine. Man bestellt Bier, das nach Birne schmeckt oder nach Rauch.

Dahinter steckt ein Trend, der vor einigen Jahren aus den USA übergeschwappt ist und sich allmählich verfestigt: Die Craft-Brauereien, meist kleine bis kleinste Brauereien, die Biere abseits des großen Mainstreams brauen.

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Berlin ist das Zentrum der Bewegung, inzwischen gibt es so viele Mikrobrauereien in der Hauptstadt, dass sie sich allmählich schon den Markt streitig machen. In NRW ist die Szene noch klein, nur wenige Brauereien arbeiten professionell.

Bierbrauen überm Lagerfeuer

Eine von ihnen liegt zwischen Einfamilienhäusern in Spellen, einem Ortsteil von Voerde am Niederrhein. "Brauprojekt 777" steht auf dem sonst eher unauffälligen Garagentor, hinter dem vier junge Männer Bier brauen: Pils, Alt, Ale und zig weitere Biersorten, die saisonal wechseln. 600 bis 700 Hektoliter stellen sie pro Jahr in ihrer Mikrobrauerei her - zum Vergleich: deutsche Großbrauereien rechnen in Millionen Hektoliter.

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Dass Craft-Bier sich gerade zu einem In-Phänomen entwickelt, scheint Arne Hendschke, dem gelernten Brauer im Team, fast ein bisschen unangenehm zu sein. "Das wird oft so dargestellt, als wäre alles, was schon vorher da war, total scheiße", sagt der 30-Jährige. Dabei habe es immer schon "viele hervorragende Biersorten" in Deutschland gegeben. Sie wollen hier nicht Bier brauen, weil das gerade hip ist, sagt Torsten Mömken: "Wir haben einfach Riesen-Spaß am Experimentieren. Es gibt noch so viele Sorten, die gebraut werden wollen."

Bier aus der Milchkanne

Und Craft-Bier erweitere das Spektrum und bringe die Leute dazu, auch mal was anderes auszuprobieren als das übliche Pils. "Fernsehbier" nennen sie das in der Szene, weil es beim Bier der Großbrauereien oft eher um die große Fernsehwebung als um den originellen Geschmack zu gehen scheint.

Das, was Arne Hendschke und seine Kumpels in der alten Werkstatt von seinem Opa machen, wirkt immer noch ein bisschen wie der große Jungenstreich, mit dem vor zehn Jahren alles angefangen hat: "Ich hatte eine alte Milchkanne, Arne hat Hopfen und Malz mitgebracht und überm Lagefeuer im Garten haben wir dann gebraut", erzählt Torsten Mömken. Was am Ende dabei rausgekommen ist, sei eher eine Art Brottrunk gewesen - bitter und ohne Kohlensäure.

Der zweite Schluck kommt intensiv

Heute brauchen die Jungunternehmer keine alte Milchkanne mehr: Jetzt haben sie eine alte Milchkühlung. Die haben sie mit Gartenschläuchen und viel Improvisations-Know-How zur Brauanlage umfunktioniert, auch die kleine Abfüllanlage daneben ist selbstgebaut. Das Büro besteht aus einem antiken Apothekerschrank, den Hendschke noch im Keller hatte und einer altehrwürdigen Kneipen-Holztheke, die auch Verkaufsfläche ist.

Das Bier, das sie verkaufen, ist in der Regel kaltgehopft - nach der Erhitzung kommt vor dem Reifen noch Hopfen ins Bier. "Dadurch ist es sehr aromatisch. Hier, probier mal", sagt Hendschke und schenkt ein Single-Hop ein - ein gelb-rötliches Bier mit besonders hohem Hopfenanteil. Es duftet erstaunlich süßlich. Der erste Schluck lässt den ungeübten "Fernsehbier"-Gaumen erst mal ratlos zurück. Der zweite Schluck kommt dann richtig gut und intensiv.

Das Bier lebt

Weil das ungefilterte Bier nicht pasteurisiert wird, ist die Haltbarkeit kürzer als bei Industrie-Bieren. In den Flaschen reift es weiter - "es lebt", sagt Mömken. Dass sie das Brauen mal zum Geschäft machen könnten, sei anfangs gar nicht geplant gewesen. Die ersten Flaschen waren noch für ihren Mofa-Club "Die Kobras" gedacht, erzählt Tim Schade. Als dann bei der Werksverkauf-Premiere vor drei Jahren nach wenigen Stunden alles leergekauft war, wurde aus dem Hobby ein Geschäft.

Die neuen Medien helfen: Inzwischen gibt es eine Bierblogger-Szene, die über neue Sorten und Marken berichten. Kunden kommen inzwischen aus Köln und Düsseldorf nach Spellen, einer habe sogar mal den Weg aus Nürnberg auf sich genommen. Torsten Mömken und Arne Hendschke haben ihre sicheren Jobs als Angestellte inzwischen aufgegeben - sie leben jetzt vom Brauprojekt.

"Früher wurde auf dem Bau mittags die erste Flasche aufgemacht" 

Während immer mehr der Mini-Brauereien entstehen und das Craft-Bier sich zum Trend entwickelt, sind die Umsatzzahlen bei den konventionellen Großbrauereien seit Jahren rückläufig. Warsteiner etwa hat seinen Bierausstoß seit den späten 90ern auf mittlerweile 2,2 Millionen Hektoliter pro Jahr halbiert.

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Insgesamt ist der Bierausstoß in Deutschland seit 2005 kontinuierlich von 105 Millionen Hektoliter auf etwa 94 gesunken. Jeder Deutsche trinkt durchschnittlich 106 Liter Bier pro Jahr, vor zehn Jahren waren es noch 115. Nur 2014 gab es wieder ein leichtes Plus: Im WM-Jahr war die Bierlust größer als sonst, und das Sommerwetter hat auch mitgespielt.

Dass die Deutsche weniger Bier trinken, habe soziodemographische Gründe, sagt Marc-Oliver Huhnholz vom Deutschen Brauer-Bund. Oder weniger wissenschaftlich: "Die Alten trinken nicht mehr so viel und die Jungen führen ein ganz anderes Leben, als die Generation davor." Die Menschen würden jetzt weniger in Kneipen sitzen, um beim Kartenspielen Bier zu trinken, sondern eher am Wochenende in Clubs und Bars Cocktails trinken.

"Früher wurde auf dem Bau mittags das erste Bier aufgemacht. Heute geht das nicht mehr, dass am Arbeitsplatz getrunken wird." Dennoch sei Deutschland "immer noch eine Biernation: Es gibt 5000 Biersorten, die in 1352 Braustätten gebraut werden." Und nach wie vor sei das süffige Pils beliebt und werde viel getrunken.

Töchter mit trendigen Namen

Das Craft-Bier sei ein absolutes Nischenprodukt. "Es gibt etwa 900 Braustätten in Deutschland, die bis zu 5000 Hektoliter pro Jahr brauen. Die produzieren gerade mal knapp ein Prozent der gesamten Biermenge in Deutschland.“

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Von Thorsten Breitkopf

Indes scheint die Nische so groß zu sein, dass auch die großen Brauereien einsteigen. Weil deren gigantische Brauanlagen schlichtweg zu groß sind, um mal eben mit neuen Sorten zu experimentieren - ein Fehlcharge würde Millionenverluste bedeuten - gründen sie Tochtergesellschaften, die trendige Namen tragen. Bitburger etwa geht mit Craftwerk ins Rennen und Branchenriese Radeberger hat den Trend schon vor Jahren erkannt. Der Ableger Braufactum existiert seit 2010. Bei einer Marktführer-Tochter läuft die Kommunikation anders als bei kleinen, unabhängigen Mikrobrauern, die sich sonst in der Szene tummeln: Den Kontakt zu Braufactum-Geschäftsführer Marc Rauschmann stellt eine Presseagentur in Hamburg her, das Unternehmen selbst sitzt in Frankfurt.

"Es kommt nicht darauf an, wie groß die Brauerei ist"

Dass Craft-Bier und Großkonzern Gegensätze sind, findet Rauschmann nicht: "Es kommt nicht darauf an, wie groß eine Brauerei ist, sondern ob die Menschen die Freiheit haben, was Neues auszuprobieren." Braufactum sei ein klassisches Start-Up.

Vor 2010 war Rauschmann für die Qualitätssicherung bei Radeberger zuständig. "Drei Mitarbeiter hatten Lust, was Neues zu probieren. Einer davon war ich. Wir sind dann auf Reisen gegangen, um zu schauen, was die Brauer in anderen Ländern so machen.“ Gerade erst war Rauschmann in den USA, bei der "Craft Brewers Conference". Craft-Bier ist hier seit 30 Jahren ein Thema, der Markt ist viel größer als in Deutschland. "Da waren 11.000 Teilnehmer aus der ganzen Welt. Nur aus Deutschland waren außer mir nur wenige Brauer vor Ort", wundert sich der Brau-Experte. "Wer sich als Brauer nicht auch in den USA umschaut, erfasst das Thema Craft Bier nur unzureichend.“

Braufactum-Geschäftsführer Marc Rauschmann prüft den Hopfen, der mal ins Bier kommen soll.
Braufactum-Geschäftsführer Marc Rauschmann prüft den Hopfen, der mal ins Bier kommen soll. © Braufactum

Beim Craft Bier gehe es eben nicht nur um bestimmte Sorten wie IPA, "sondern es geht darum, über den Tellerrand zu schauen.“ In Nordamerika sei das stinknormale Pils ein Craft-Bier, weil es dort außergewöhnlich sei. Die neuen Biere machen in den USA inzwischen rund elf Prozent der Gesamtmenge aus - hierzulande ist es unter einem Prozent.

"Der Biertrinker ist unmündig geworden"

"Deutschland ist bei dem Thema noch völlig hinterher", sagt Fritz Wülfing, Chef der Bonner "Ale-Mania"-Brauerei und einer der Pioniere des Craft-Brauens hierzulande. "Die Industrie hat den Biertrinker unmündig gemacht. Ihm ist über Jahrzehnte eingetrichtert worden: Wir sind eine Biernation, wir brauen das beste Bier der Welt, das müsst ihr nicht hinterfragen.“ In den USA hingegen hätten die großen Produzenten Respekt vor den kleinen Brauereien. "Die bangen um ihren Absatz, einige starten schon Gegenkampagnen oder kaufen die kleinen ganz auf."

Dass auch hierzulande immer mehr Großbrauereien Craft-Bier herstellen, sei aber kein Problem für die Kleinen - im Gegenteil: "Das ist nur positiv. Die können viel effizienter Werbung machen und in größerer Stückzahl produzieren. Dadurch werden die Menschen auf das Produkt aufmerksam. Den mittelständischen Brauern kommt das zugute." Mittelfristig werde das Craft-Bier zwar ein Nischen-Ding bleiben, "die Brauereillandschaft hat das aber schon jetzt maßgeblich beeinflusst.

Verkaufen? Das würde schon wehtun

Wie würden er und seine Kollegen denn auf ein gutes Übernahmeangebot reagieren? "Ich weiß gar nicht, ob das überhaupt funktionieren würde", sagt Arne Hendschke vom Brauprojekt 777. "Das mit dem Craft-Bier ist ja auch eine Glaubensfrage. Wenn einer das gut findet, Bier vom unabhängigen Brauer zu trinken, wird der ja nicht wieder auf Produkte von der Großbrauerei umschwenken." Jedenfalls müsse der Preis müsste schon richtig gut sein, sagt Torsten Mömken: "Das Brauprojekt ist ja auch ein Baby. So viel zahlt wahrscheinlich keiner."

Arne Hendschke überlegt ein paar Momente, bevor er schließlich antwortet: "Überleg dir mal, du verkaufst das alles hier, und dann siehst du unsere Flaschen im Supermarkt stehen. Das würde schon wehtun."