Berlin. Grünen-Europapolitiker Anton Hofreiter warnt vor fatalen Fehlern bei der Migration – und kritisiert Pläne von Innenministerin Faeser.
Aus der Ukraine sind mehr als eine Million Kriegsflüchtlinge nach Deutschland gekommen, und die Zahl der Asylbewerber aus anderen Ländern steigt. Sind die Grünen bereit, die Zuwanderung zu begrenzen? Anton Hofreiter, der dem Europaausschuss im Bundestag vorsteht, hat andere Pläne.
Bundespräsident Steinmeier sieht Deutschland an der Belastungsgrenze. Sein Vorgänger Gauck findet es „moralisch überhaupt nicht verwerflich“, bei der Zuwanderung eine Begrenzungsstrategie zu fahren. Widersprechen Sie, Herr Hofreiter?
Anton Hofreiter: Natürlich kann man in Deutschland nicht alle Menschen aufnehmen. Ich widerspreche aber, wenn Leute wie Markus Söder eine harte Obergrenze fordern. Das löst nicht das Problem, sondern heizt nur populistisch die Stimmung an. Wenn wir eine Grenze bei 200.000 Geflüchteten ziehen, stellt sich die Frage, was wir mit dem ersten Geflüchteten machen, der darüberliegt.
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In Deutschland haben bis August schon 204.000 Menschen einen ersten Antrag auf Asyl gestellt – ein Plus von 77 Prozent zum Vorjahr. Wie sieht Ihre Antwort aus?
Hofreiter: Wir müssen uns viel mehr Mühe geben, um Migrationsabkommen mit Herkunftsländern zu schließen. Diese Abkommen sollten nicht nur die Rückführung abgelehnter Asylbewerber erleichtern, sondern auch legale Migrationswege eröffnen. Viele Menschen fliehen durch die Sahara und über das Mittelmeer – und kommen dabei ums Leben. Die europäische Südgrenze ist die tödlichste Grenze der Welt. Das kann so nicht weitergehen.
Asylbewerber aus Tunesien, Marokko oder Algerien haben in Deutschland kaum Aussichten auf Anerkennung. Warum sperren sich die Grünen dagegen, die Maghreb-Staaten als sichere Herkunftsländer einzustufen?
Hofreiter: Wir können die Maghreb-Staaten nicht willkürlich zu sicheren Herkunftsländern erklären. Tunesien ist auf dem Weg in die Diktatur, sperrt Oppositionelle und Journalisten ein. Politische Verfolgung ist kein Massenphänomen. Aber wer davon betroffen ist, muss die Aussicht auf Asyl in Deutschland bekommen.
Dann stört Sie auch der Beschluss der Ampel-Regierung, Georgien und Moldau in die Liste der sicheren Herkunftsländer aufzunehmen?
Hofreiter: Nein. Moldau ist ein Kandidatenland für die Europäische Union, Georgien hat eine Beitrittsperspektive. Wir sehen in beiden Staaten keine nennenswerte politische Verfolgung.
Innenministerin Faeser will Grenzkontrollen zu Polen und Tschechien einrichten – wie es sie schon zu Österreich gibt. Wie bewerten Sie das?
Hofreiter: Ich gehe oft wandern in der Grenzregion zwischen Bayern und Österreich. Daher weiß ich, dass diese Grenzkontrollen rein symbolischer Natur sind. Ernsthafte Kontrollen würden auch die Wirtschaft und den Tourismus in dieser Region zusammenbrechen lassen. Entscheidend ist Klarheit an den europäischen Außengrenzen: Wir müssen wissen, wer zu uns kommt. Die Abschaffung der Binnengrenzen ist ein historischer Erfolg der Europäischen UnionEuropäischen Union, den wir nicht zurückdrehen dürfen. Ich kann nur davor warnen, die Grenzkontrollen auf Polen und Tschechien auszuweiten.
Unterstützen Sie die europäische Asylreform, die Asylverfahren auch an den Außengrenzen vorsieht?
Hofreiter: Diese Asylreform bringt eine Verschärfung für die Geflüchteten, ohne die Gesamtsituation zu verbessern. Es werden dadurch nicht weniger Menschen den lebensgefährlichen Weg nach Europa auf sich nehmen – und die Asylverfahren werden auch nicht besser funktionieren. Welchen Grund sollte Italien haben, plötzlich schnelle und vernünftige Verfahren zu machen? Italien ist jetzt schon in der Verantwortung und winkt die Flüchtlinge einfach durch.
Deswegen wollen Sie auf neue Regeln verzichten?
Hofreiter: Ich fürchte, dass sich de facto nichts verändert – außer dass es unmenschlicher wird. Mit dieser Asylreform werden wir das Chaos in den Lagern von Moria und Lampedusa noch übertreffen.
Haben Sie nicht die Sorge, noch mehr Wasser auf die Mühlen der AfD zu leiten?
Hofreiter: Eine humane Asylpolitik macht die AfD nicht stärker.
Sie verdrängen, dass der Höhenflug der AfD auch ein Misstrauensvotum gegen die Ampelregierung ist.
Hofreiter: Die Streitereien haben der Koalition sicher nicht geholfen. Aber auch im Land hat sich etwas verändert. Die neue Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zeigt: Der harte Kern der Rechtsextremen in Deutschland ist von zwei bis drei Prozent auf acht Prozent gewachsen – und das innerhalb von zwei Jahren.
Eine Ursache ist die tiefe Verunsicherung der Menschen: zum einen durch die Pandemie, zum anderen durch den Krieg in Europa. Dazu kommt die Entwicklung in den sozialen Netzwerken. Wir sehen ein unglaubliches Ausmaß an Hass, Verschwörungsmythen und Fake News.
Was tun?
Hofreiter: Wir müssen in den sozialen Netzwerken viel stärker die Gesetze durchsetzen. Es kann nicht sein, dass Volksverhetzung und Beleidigung massenhaft stattfinden, ohne dass es Konsequenzen hat. Ich räume ein, dass wir Grünen die repressive Komponente lange unterschätzt haben. Wir brauchen mehr Polizei, wir brauchen neue Schwerpunktstaatsanwaltschaften. Der Wille, gegen die Verrohung im Netz vorzugehen, ist leider nicht in allen Bundesländern zu erkennen. Wir müssen den Trollen – gerade auch aus Russland – die Grenzen aufzeigen.
Die AfD könnte an diesem Sonntag ihren ersten AfD-Oberbürgermeister bekommen – im thüringischen Nordhausen. Wie gehen Sie damit um?
Hofreiter: Die AfD ist eine weitgehend rechtsradikale Partei. Sie wird vom Verfassungsschutz überwacht. Daher haben AfD-Mitglieder im Staatsapparat nichts zu suchen. Rechtsradikale Beamte sollten von ihren Aufgaben entbunden werden. Ein AfD-Oberbürgermeister wäre eine irre Herausforderung für den Stadtrat. Wir müssen eine klare Trennwand ziehen – auch in den Kommunen.
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Nehmen wir an, in einer Gemeinde wollen die Grünen eine Turnhalle bauen – und die AfD ist auch dafür. Gibt es die Turnhalle dann nicht?
Hofreiter: Eine demokratische Partei darf sich nicht davon abhängig machen, die eigene Idee mit den Stimmen der AfD durchzubringen. Für den Fall, dass keine demokratische Mehrheit für die Turnhalle zustande kommt, sollte man sie nicht bauen.
Es wäre nicht das erste Mal, dass Grüne in den Kommunen mit der AfD stimmen.
Hofreiter: Wer sich uneinsichtig zeigt und immer wieder Mehrheiten mit der AfD sucht, sollte nicht in unserer Partei sein. Zum Glück hatten wir solche Wiederholungstäter bisher nicht.
Die AfD inszeniert sich als Friedenspartei und spricht sich gegen Waffenlieferungen an die Ukraine aus. Das verfängt bei vielen Menschen …
Hofreiter: Wenn wir aufhören, Waffen zu liefern, wird es keinen Frieden geben. Dann wird die Ukraine den Krieg verlieren – und Russland die nächsten Länder ins Visier nehmen: Moldau, Georgien, das Baltikum. Das ist Putins Fahrplan.
Sollte Deutschland als Nächstes Taurus-Marschflugkörper liefern?
Hofreiter: Wir sollten nicht endlos über Waffensysteme diskutieren, sondern der Ukraine möglichst schnell möglichst viel liefern, damit Putin endlich versteht, dass er diesen Krieg nicht gewinnen wird.
Also auch Taurus.
Hofreiter: Ich bin dafür, Taurus so schnell wie möglich zu liefern. Besser wäre gewesen, die benötigten Waffen von Anfang an bereitzustellen. Dann würde es auf dem Schlachtfeld ganz anders ausschauen. Die Verzögerung hat dazu geführt, dass die russische Armee die Front verminen konnte – und der Krieg sich in die Länge zieht. Diesen Fehler sollten wir nicht kontinuierlich fortsetzen. Solange Putin glaubt, dass er über die lange Strecke gewinnen kann, werden die Waffen nicht ruhen.
Wie groß ist die Gefahr, dass Putins Rechnung aufgeht?
Hofreiter: Man kann es nicht ausschließen. Für die Demokratien in Europa ist es lebenswichtig, Putin in der Ukraine zu stoppen. Dafür müssen wir aber mehr tun und gemeinsam an einem Strang ziehen.
Was ist, wenn die Ukraine mit deutschen Waffen russisches Territorium angreift?
Hofreiter: Erstens: Nach der Lieferung sind es ukrainische Waffen. Zweitens: Russland greift die Ukraine an – und wir verlangen von der Regierung in Kiew, dass sie darauf verzichtet, mit den gelieferten Waffen militärische Einrichtungen auf russischem Gebiet zu zerstören. Wir müssen uns bewusst machen, dass diese Einschränkung schwerwiegende Folgen für die Ukraine hat.
Drittens: Die Ukraine hat bereits jetzt viele Waffen, mit denen sie russisches Territorium angreifen könnte – auch aus Deutschland. Die Panzerhaubitze 2000 schießt 50 Kilometer weit. Aber die Ukrainer haben sich bisher immer an die Vorgaben gehalten.
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Sie würden der Ukraine einen Freibrief geben, Russland mit westlichen Waffen anzugreifen?
Hofreiter: Die westlichen Verbündeten haben das anders entschieden. Es ist eine Vorgabe, die es der Ukraine schwerer macht, sich zu verteidigen. Viele Raketen, die ukrainische Städte zerstören, werden von einer militärischen Einrichtung in Russland gestartet. Militärstrategisch wäre es für Kiew viel einfacher, wenn die Ukraine auch mit gelieferten Waffen militärische Ziele in Russland angreifen könnte.
Ist die Gefahr einer nuklearen Eskalation gebannt? Sind Sie sicher, dass Putin nicht doch Atomwaffen einsetzt?
Hofreiter: Man kann sich nie hundertprozentig sicher sein. Aber die nukleare Abschreckung funktioniert sehr gut. Die Amerikaner und auch die Chinesen haben Putin deutlich zu verstehen gegeben, was passieren würde. Es ist nicht in seinem Interesse, Atomwaffen einzusetzen. Putin hat sich bisher verbrecherisch, aber nicht irrational verhalten.