Essen. Besucher sind oft erstaunt, wie viele Wälder und Wiesen und Felder das Revier zu bieten hat. Ein neues Buch zeigt: „So grün ist das Ruhrgebiet“.
Der folgende Text und die Bilder stammen aus dem Band: „So grün ist das Ruhrgebiet“ von Jochen Tack, Klartext Verlag, 192 S., 24,95 €.
Das Ruhrgebiet war schon immer grün. Besonders, als es noch gar nicht so hieß. Vor 360 Millionen Jahren etwa, als das Erdzeitalter des Karbons begann, war sogar das schwarze Gold noch grün. Und das künftige Revier ein sumpfiger Dschungel, vergleichbar am ehesten mit den heutigen Everglades in Miami. Es wuchsen vorwiegend Farne und Bärlapppflanzen. Mitunter 40 Meter hohe Bäume, manche von ihnen bestanden zu 98 Prozent aus Rinde. Selbst die Schachtelhalme hatten Baumstärke. Die Heftigkeit, mit der das Grün wucherte, sorgte für einen Sauerstoffgehalt von 30 bis 35 Prozent in der Luft (heute haben wir 21). Die Tierwelt bewegte sich überwiegend bodennah, es war die goldene Ära der Lurche und anderer Amphibien.
Woher hat die Stadt Essen ihren Namen?
Als fast 360 Millionen Jahre später das Grün der Karbonpflanzen durch Meeresfluten, Sediment- und Gesteinsdruck längst zu Kohle geworden war, wuchsen viel weiter oben wieder Bäume. Diesmal allerdings Buchen, Eichen und Eschen. Der Schriftsteller Jürgen Lodemann erklärt sogar den alten Namen der Stadt Essen Asnidhi (lat. Assindia) als „Ort der Esche“. Massenhaft gefällt wurden kurz vor Christi Geburt die Bäume eher weiter nördlich, am See von Haltern, das damals noch Aliso hieß. Das Römerlager war eine Schaltzentrale römischer Macht im rechtsrheinischen Germanien. Dort verwandelte sich der örtliche Wald in einen erdbewehrten Wall rings um 20.000 Legionäre, teilweise auch in Plattbodenschiffe für Transporte über die Lippe.
Bergleute und Stahlkocher hatten ein Haus in der Siedlung mit Garten
Wieder ein Jahrtausend später war das christliche Abendland in Stein gemeißelt – und immer noch herrschte Grün vor. Das der Wälder war freilich mehr und mehr durchbrochen von Wiesen und Feldern. Dörfer und Höfe wurden Jahrzehnt um Jahrzehnt ebenfalls immer mehr. Wer nicht gerade in einer der jungen Städte wie Dortmund oder Duisburg mit ihren 5000 Einwohnern lebte, war Bauer oder Magd, Knecht oder Hofherrin.
Das änderte sich allmählich Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts, als in Oberhausen und Essen erste Eisenhütten und Gießereien qualmten und die Dampfmaschinen der Zechen. Immer größere Teile der Wälder verschwanden beim Ausbau von Stollen und Strecken als Stempel und Kappen unter Tage – und immer mehr Menschen wanderten in die Dörfer und kleinen Städte, um hier zu arbeiten. Anfangs noch vorwiegend Bauern(kinder) aus der ländlichen Umgebung, später auch aus Masuren, Polen und Ostpreußen. Sie alle bauten Grün zum Essen an: Sie waren es ja gewohnt, sich aus dem eigenen Garten zu ernähren, was bei den Löhnen der Bergleute und Stahlkocher auch bitter nötig war. Als die Gutehoffnungshütte 1844 in Oberhausen für ihre Arbeiter die Siedlung Eisenheim plante, wurden zu jedem Haus 150 Quadratmeter Gartenland eingeplant, dafür baute man die Eisenheimer Straße extra im passenden Abstand zu den Grundstücken aus.
4435 Quadratkilometer sind grün, in Essen, Hagen, Bochum, Duisburg, Dortmund und Gelsenkirchen
Und je dichter die Rauchschwaden über den Städten wurden, desto mehr drängten vor allem Bürger des Reviers auf öffentliches Grün zum Ausgleich: Mit den Stadtpark-Anlagen von Essen, Hagen und Bochum entstehen Mitte des 19. Jahrhunderts die ersten öffentlichen Gärten der Region, in Duisburg folgt 1886 der Stadtgarten, in Gelsenkirchen 1895 der Kaiser-Wilhelm-Garten, in Oberhausen wurde 1897 aus dem ehemaligen gräflichen Jagdrevier am Schloss der Kaisergarten, benannt nach Wilhelm I. zu dessen 100. Geburtstag.
Heute sind weit mehr als die Hälfte der 4435 Quadratkilometer Ruhrgebiet grün: Wälder, Felder, Parks und Wasserflächen jenseits von Siedlungs-, Produktions- und Verkehrsflächen. Im Vergleich zu anderen europäischen Industrieregionen liegt der Wald-Anteil mit 17,5 Prozent relativ hoch. Große Wälder gibt es vor allem an den nördlichen Rändern des Reviers wie die Haard, den Schlosswald Herten, den Beerenbruch, das Castroper Holz und die Hohe Mark im Kreis Recklinghausen, den Emscherbruch in Gelsenkirchen, die Kirchheller Heide am Übergang von Bottrop ins Münsterland, die Üfter Mark und den Baerler Busch im nordwestlichen Kreis Wesel; im Süden ist es der Stadtwald Witten, der Eilper Berg in Hagen und kleine, feine Waldgebiete an den Uferhängen der Ruhr.
Sind gerade noch Briketts geflogen ?
Hier wie eigentlich überall im Revier ist von Auswärtigen nichts so häufig zu hören wie dieser eine Satz, der so viel verrät über unerfüllte Erwartungen – die sich dann als ein überraschtes „Ui, das ist aber grün hier!“ Luft verschaffen. Den Menschen im Ruhrgebiet kommt der Satz, weil sie ihn so oft hören, als wären hier gerade gestern noch Briketts durch die Luft geflogen, längst schon zu den Ohren wieder heraus. Aber gern hören sie ihn doch. Jedes Mal. Stimmt ja auch.
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