Mülheim. 100 Jahre Disney: Warum Walt Disney gar nicht Vater der Micky Maus ist – und wo sein wahres Talent lag, erklärt der Comic-Professor aus Mülheim.

Mal wieder gibt es Grund zum Feiern im Haus der Maus: Vor ziemlich genau 100 Jahren gründeten Walt Disney und sein acht Jahre älterer Bruder Roy das „Disney Brothers Cartoon Studio”, das die Welt heute viel besser als „Walt Disney Studio” kennt. Von 1923 dauerte es zwar noch gut fünf Jahre bis zum ersten Erfolg der Micky Maus, aber das Fundament für einen Weltkonzern, der bis heute anscheinend endlos expandiert, war gelegt. Und während Disney das Augenmerk eher auf den Mausvater als Geschichtenerzähler und guten Onkel lenkte, kann man den Werdegang ebenso als den eines unersättlichen Kulturimperialisten ansehen. Georg Howahl sprach über diesen Aspekt der Disney-Historie mit dem Mülheimer Hendrik Dorgathen, Illustrator, vielfach ausgezeichneter Comic-Künstler und Professor für Illustration und Comics an der Kunsthochschule Kassel, der dazu eine kritische Meinung vertritt.

Herr Dorgathen, auch wenn Walt Disney vor allem Geschick als Geschäftsmann bewiesen hat, stellt sich die Frage: War er nicht auch überaus bedeutend für die Entwicklung des Comics? Immerhin gehören Micky Maus und Donald Duck ja zu den erfolgreichsten Disney-Charakteren...

Dorgathen: Walt Disney hatte an den Comics eigentlich überhaupt kein Interesse. Was wir aus dieser Ecke des Disney-Universums so lieben, das sind die frühen Arbeiten von Floyd Gottfredson, der die Micky Maus zeichnerisch ja eigentlich erfunden hat. Oder eben von Carl Barks, der dasselbe für Donald Duck getan hat. Gottfredson wurde von Disney immerhin noch wahrgenommen. Aber Carl Barks? Den hat Disney nie getroffen und der ist auch nie in seinem Kopf angekommen. Die Figuren, die man so besonders schätzt, also Daniel Düsentrieb, Dagobert Duck, Gustav Gans oder Gundel Gaukeley, stammen ja von Barks. Der arbeitete für Western Publishing, eine Firma, an die die Disney Company ihre Lizenzen vergeben hatte und die auch gar nicht in Los Angeles beheimatet war. Und die sollten einfach den ganzen Figurenpark, den es damals schon gab, in Comics behandeln. Und Walt Disney behielt das Copyright.

Disney galt ja tatsächlich als mäßig begabter Zeichner und schrieb auch nicht lange selbst die Storys für seine Micky Maus. Aber lag sein Verdienst denn rein im Geschäftlichen?

Walt Disney mit seinem Bruder Roy: Während Walt als kreativ galt, kümmerte sich Roy um die Finanzen. Zwar erfand Walt Disney die Micky Maus, aber die meisten unvergänglichen Geschichten stammen aus der Feder seiner Stammzeichner Ub Iwerks und Floyd Gottfredson. Und Donald Duck verdankt seine Popularität der Genialität von Carl Barks.
Walt Disney mit seinem Bruder Roy: Während Walt als kreativ galt, kümmerte sich Roy um die Finanzen. Zwar erfand Walt Disney die Micky Maus, aber die meisten unvergänglichen Geschichten stammen aus der Feder seiner Stammzeichner Ub Iwerks und Floyd Gottfredson. Und Donald Duck verdankt seine Popularität der Genialität von Carl Barks. © dpa | Disney

Kulturgeschichtlich war Disney der Elon Musk seiner Zeit. Was Disney aber absolut richtig gemacht hat, im Unterschied zu den meisten anderen Akteuren seiner Zeit: Er hat immer Inhalte entwickelt. Und Inhalte altern langsamer als Technologie. Das heißt: Als sie dann ins Fernsehen kamen mit der Micky Maus Show, gab es schon einen großen Fundus Animation aus 30 Jahren, Kurzfilme und abendfüllende Spielfilme, die ja in großer Regelmäßigkeit herauskamen. Außerdem die Comics und dieses gigantische Merchandising, das Disney von Anfang an betrieben hat. Er hat die Maus zusammen mit allen möglichen Produkten vermarktet, vor diesem Hintergrund sind die Comicverkäufe eher marginal.

Aber das war doch sicherlich nicht das einzige Überragende an ihm...

Es gibt noch so eine Eigenschaft, die an ihm interessant ist: Er hat definitiv ein Auge gehabt für große Talente und er hat das halt irgendwie zusammengeschraubt gekriegt, dadurch hat das diese Tragweite entwickeln können. Ich glaube nicht, dass Carl Barks oder andere Künstler dazu in der Lage gewesen wären. Aber es gab auch etwas wirklich Visionäres an ihm...

Aha, was war das?

Ewiger Pechvogel: Donald Duck ist vom Unglück verfolgt, ist aber dennoch der erfolgreichste Disney-Charakter. Erfunden hat ihn Carl Barks.
Ewiger Pechvogel: Donald Duck ist vom Unglück verfolgt, ist aber dennoch der erfolgreichste Disney-Charakter. Erfunden hat ihn Carl Barks. © WR | xxx

Dass er eigentlich eine Tradition des Barocks weiterführt, nämlich künstliche Welten zu bauen. Hier in Kassel, wo ich lehre, kann man etwas in der Art ja an der Wilhelmshöhe besichtigen, was ja ungefähr so authentisch ist wie Neuschwanstein oder irgendwelche anderen Fake-Architekturen. Wenn man dort heute mit Jugendlichen durchgeht, dann denken sie, das sei uralt. Aber diese römische Wasserleitung, die da aus dem Wald kommt, die hat nie Wasser geführt. Und die Ritterburg, die man in der Ferne sieht, ist auch so klein, dass man fast über die Mauer gucken kann. Ich spreche also genau über diese Art von Parallelwelten für jedermann. Die hat Walt über die Disney-Parks sehr früh angestrebt. Und dieser Bau von Kunstwelten geht ja heute bis hin zu den Gated Communities, die Disney betreibt, Wohnanlagen hinter Zäunen, wo man dir genau vorschreibt, wie das Haus aussehen muss, wie hoch der Rasen sein darf, welche Pflanzen da stehen dürfen etc., um so eine Art Disney-artige Landschaft zu schaffen. Was aber die totale Kontrolle bedeutet.

Dabei war Walt Disney eigentlich noch nicht einmal der Finanzexperte in der Familie, oder?

Das Ganze hätte Walt nie hingekriegt, wenn er nicht seinen Bruder Roy gehabt hätte, der war der Geschäftsmann. Walt Disney hat immer alles sofort in neue Projekte gesteckt – und ist damit sehr oft nah an der Pleite entlang manövriert. Aber je länger sie produziert haben, desto mehr fiel dieses Paket von Filmen, die Ewigkeitscharakter haben, ins Gewicht – auch wenn sie voller schwarzer Pädagogik stecken. Ich selbst kann es ja gar nicht ertragen, die alten Disney-Filme zu gucken. Das würde ich Kindern überhaupt nicht geben. Und das habe ich auch nie.

Welche Filme sind denn da speziell gemeint, es gibt ja so viele davon?

Ich meine Filme wie „Pinocchio“ oder „Sleeping Beauty“, das ist alles zutiefst finster. Also eigentlich fällt alles vor dem „Dschungelbuch“ und vor „Robin Hood“ in diese Kategorie. Bei den letzteren in den 1960er-Jahren hatten ja die Hippies schon das Sagen im Studio.

Was gibt es an den Disney-Charakteren denn sonst noch auszusetzen?

Drei Neffen, kein Vater: Tick, Trick und Track werden nicht in einer normalen Familie großgezogen, sondern von ihrem Onkel Donald.
Drei Neffen, kein Vater: Tick, Trick und Track werden nicht in einer normalen Familie großgezogen, sondern von ihrem Onkel Donald. © 2023 Egmont Ehapa Media/Disney | 2023 Egmont Ehapa Media/Disney

Es gibt keine Sexualität. Und es gibt nur weiße Menschen. Nehmen wir mal Donald Duck. Donald ist nicht verheiratet, hat aber drei Neffen, auf diese Weise ist man darum herumgekommen, dass er der Vater sein könnte. Er hat keine Sexualität...

Und das, obwohl er ganz schamlos ohne Hose mit seinem blanken Bürzel durch die Welt läuft...

Ja, stattdessen sind alle veronkelt und vertantet. Aber keiner lebt in einer normalen Familie.

Auch die Person Walt Disney erscheint Ihnen nicht sonderlich sympathisch, oder?

Es ist ja herausgekommen, als man Einsicht in die Akten nehmen konnte, dass Walt Disney von 1940 bis zu seinem Tod 1966 Informant des FBI gewesen ist, der Schauspieler und Animateure, die einer kommunistischen Gesinnung verdächtig waren, verraten hat.

Anfangs haben Sie erwähnt, dass Disney vor allem Inhalte entwickelt hat, aber technisch waren die Filme doch auch oft revolutionär oder ­zumindest voll auf der Höhe ihrer Zeit...

Technisch und kommerziell ein Erfolg: „Steamboat Willie“ war der erste Trickfilm mit Ton - eine Sensation in der jungen Welt der visuellen Massenmedien. Walt Disney selbst verlieh der Micky Maus seine Stimme.
Technisch und kommerziell ein Erfolg: „Steamboat Willie“ war der erste Trickfilm mit Ton - eine Sensation in der jungen Welt der visuellen Massenmedien. Walt Disney selbst verlieh der Micky Maus seine Stimme. © dpa | -

In der Zeit, in der Disney anfing, entstehen die visuellen Massenmedien worden. Das heißt: Bei so einem Film wie „Steamboat Willie“ war es einfach schon eine Sensation, dass so etwas überhaupt geht: Zeichnungen, die zu leben scheinen. Das gab sofort eine internationale Aufmerksamkeit, die unvergleichlich war – und der Film ist auch in Europa eingeschlagen wie eine Bombe. Und Disney hat auch bei späteren Filmen wie „Sleeping Beauty“ eine hohe technische Perfektion angestrebt.

Egal, wie man es betrachtet, es gibt kaum jemanden in Deutschland, in ganz Europa oder in den USA, der in seiner Jugend nicht in irgendeiner Art und Weise von Disney und seinen verschiedenen Medien geprägt worden ist, oder?

Die Micky Maus und alles, was damit zusammenhängt, sind Teil des öffentlichen Bildes. Das ist genauso wie mit Coca Cola, wo man auch nicht der Werbung entgehen kann. Das hat hier in Deutschland abgenommen, aber es ist immer noch sehr präsent im öffentlichen Raum. Denn es gibt ja auch unzählige Produkte, auf denen die Maus zu sehen ist, auf Shirts, Trinkbechern und Taschen.

Als Comic-Künstler und Illustrator, der nun keine sonderlichen Sympathien für die Maus hegt: Sind sie dennoch irgendwie durch Disney und seine Charaktere beeinflusst worden?

Auch als Comic-Künstler eine Größe: Professor Hendrik Dorgathen aus Mülheim lehrt Illustration in Kassel – und betrachtet den Disney-Konzern kritisch.
Auch als Comic-Künstler eine Größe: Professor Hendrik Dorgathen aus Mülheim lehrt Illustration in Kassel – und betrachtet den Disney-Konzern kritisch. © Fabian Strauch

In meinen Arbeiten finden sich tatsächlich viele Bezüge auf die Maus. In meinem Buch „Slow“ zum Beispiel gibt es den Comic „Die Spore“, in dem es thematisch eigentlich um das Attentat von Lockerbie geht, bei dem dieser Jumbojet in die Luft gesprengt worden ist und auf eine Wohnsiedlung stürzte. Die Bombe ist bei mir in einer Micky Maus versteckt, es ist eine Puppe gefüllt mit Plastiksprengstoff. Und diese Puppe, also die Micky Maus, führt praktisch durch die Geschichte. Das ist eine ganz zynische Micky Maus.

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