Berlin/Mainz. Union und FDP wollen den Acht-Stunden-Tag abschaffen. Ein Arbeitspsychologe ordnet die Folgen für Gesundheit und Wirtschaft ein.
Thomas Rigotti meldet sich am frühen Montagmorgen per Videocall aus dem Homeoffice. Die Flexibilisierung der Arbeit nutzt er in seinem eigenen Job, sie ist aber auch einer seiner Forschungsschwerpunkte. Rigotti ist Professor für Arbeits-, Organisations- und Wirtschaftspsychologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und arbeitet außerdem als Arbeitsgruppenleiter beim Leibniz Institut für Resilienzforschung. Vor der Bundestagswahl nimmt er sich Zeit für ein Gespräch über eine mögliche Reform des Arbeitsrechts.
Herr Rigotti, Union und FDP fordern in ihren Wahlprogrammen, die Höchstarbeitszeit pro Tag abzuschaffen und ausschließlich auf eine Höchstarbeitszeit pro Woche zu setzen. Warum gibt es überhaupt noch den Acht-Stunden-Tag?
Thomas Rigotti: Das beruht auf arbeitswissenschaftlicher Evidenz. Es ist klar nachgewiesen, dass die Länge der Arbeitszeit, insbesondere dann, wenn sie acht Stunden überschreitet, linear mit gesundheitlichen Einschränkungen und auf Tagesebene mit einer Erhöhung des Unfallrisikos, mit erhöhter Fehlerwahrscheinlichkeit und mit nachlassender Produktivität in Zusammenhang steht. Insofern ist das in dieser Form ja schon seit Jahrzehnten geltende Arbeitsgesetz ein Schutz für die Gesundheit von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern.
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Union und FDP erhoffen sich von der Abschaffung des Acht-Stunden-Tages mehr Flexibilität für Arbeitnehmer. Wie beurteilen Sie das?
Rigotti: Man muss prinzipiell unterscheiden zwischen Flexibilitätsanforderungen, die von Arbeitgebern an Beschäftigte gestellt werden können, und Flexibilisierungsmöglichkeiten, also Freiheiten, die Arbeitnehmende haben können. Es kann individuell als Begrenzung gesehen werden, wenn man mit Überstundenregelung nur zehn Stunden am Tag arbeiten darf. Da würde manch einer vielleicht gern noch etwas fertig machen und dafür am nächsten Tag die entsprechenden Stunden frei machen.
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Das klingt nach freiem Willen des Arbeitnehmers.
Rigotti: Ja, das mag auf den ersten Blick als Freiheit erscheinen. Aber es erhöht die Möglichkeit der Ausbeutung seitens der Arbeitgeber, wenn das nicht reguliert ist und in Tarifverträgen festgehalten wird. Ich denke, es ist nicht nötig, die Grenze von zehn Stunden zu erhöhen, weil die Gesundheitskosten durch die höhere Tagesarbeitszeit letztendlich größer wären als der vermeintliche Nutzen der Flexibilisierung.
Welche Auswirkungen hätte eine solche Reform auf gesamtgesellschaftlicher Ebene?
Rigotti: Die, die ohnehin schon viel arbeiten, werden in der Regel noch mehr arbeiten. Zu diskutieren wäre eher, wie es gelingt, Arbeitszeiten zwischen den Geschlechtern fair aufzuteilen und nicht, einzelne in Überbelastung zu bringen. Teilzeit ist nach wie vor ein weiblich dominiertes Erwerbsmodell, was mit ungleicher Behandlung in Karrierefragen einhergeht. Frauen werden immer noch als weniger geeignet für Führungskarrieren angesehen, weil sie den Großteil der Familienarbeit übernehmen.
Ist eine Flexibilisierung der Arbeit also gar nicht erstrebenswert?
Rigotti: Wir wissen schon lange, dass je flexibler die Arbeitszeit ist, die Leute auch mehr arbeiten. Bei einer flexiblen Arbeitszeit sind zwar Freiheiten da, aber auch eine interessierte Selbstausbeutung. Es ist nämlich nicht nur so, dass Arbeitgeber Druck aufbauen, sondern er kann auch systemisch bedingt sein. Und wenn man dann eine Beförderung erreichen oder zeigen möchte, wie leistungsfähig man ist, wendet man vielleicht mehr Zeit für eine Aufgabe auf, als man gegenüber dem Arbeitgeber zugibt. Das verzerrt auch die Norm.
Inwiefern?
Früher gab es den Akkordarbeiter am Band, der schneller arbeitet als alle anderen. Der war bei den Kollegen nicht so beliebt, weil dann alle anderen auch schneller arbeiten mussten. Und Ähnliches erleben wir heute, weil der Arbeitsprozess an sich durch das Homeoffice nicht mehr so beobachtbar ist. Da sieht man am Ende nur, dass das Projekt in einer Woche geschafft wurde – aber eben nicht in 40 Stunden, sondern in 60 oder 70.
Laut einer AOK-Studie steigen die Arbeitsunfähigkeitstage wegen einer Burn-out-Erkrankung seit 2013 unaufhörlich an. Welche Auswirkungen hätte das Ende des Acht-Stunden-Tages in dieser Hinsicht?
Rigotti: Bei den Langzeit-Auswirkungen von übermäßiger Arbeitszeit stehen die psychischen Erkrankungen an erster Stelle, aber es können auch psychosomatische oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen auftreten. Wenn der Mensch durch fehlende regelmäßige Erholung nicht immer wieder zurückkommt auf ein gewisses Ausgangsniveau, besteht die Gefahr, dass sich das mit der Zeit hochschaukelt. Das kann Monate oder Jahre dauern und dann ist der Nachweis natürlich schwerer zu führen, als wenn jemand von der Leiter fällt und sich das Bein bricht. Aber chronische Überbelastung, die teilweise über Jahre anhält, bringt irgendwann das System zum Kippen. Das haben wir in den letzten Jahren schon gesehen, wo wir eine massive Zunahme an psychischen Erkrankungen im Arbeitsumfeld bis hin zur Frühverrentung festgestellt haben.
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Ist es also falsch, schlicht mehr Arbeit und eine höhere Leistungsbereitschaft zu fordern?
Rigotti: Die Menschen arbeiten ja nicht zu wenig. Im Durchschnitt werden pro Woche fünf Überstunden gemacht, viele davon unbezahlt. Das muss nicht ausgeweitet werden. Man müsste eher dafür sorgen, dass die Lohnnebenkosten für Arbeitgeber attraktiver gestaltet werden. Dann würde es Sinn machen, statt einer Person, die 60 Stunden arbeitet, eine zweite Person einzustellen, sodass beide jeweils 30 Stunden arbeiten.
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