Essen/Duisburg. Ein kilometerlanges Wasserstoff-Kernnetz soll mit Hilfe von OGE und Thyssengas entstehen. Evonik, RWE und Thyssenkrupp können hoffen.
Der Wasserstoff-Hunger der Industrie im Ruhrgebiet ist groß – insbesondere bei Thyssenkrupp Steel. Ab dem Jahr 2029 will Deutschlands größter Stahlkonzern etwa 143.000 Tonnen Wasserstoff pro Jahr verbrauchen. Das entspricht Unternehmensangaben zufolge alle zwei Stunden und 365 Tage im Jahr der Füllmenge des Gasometers Oberhausen. Aber: „Dieser Wasserstoff ist nicht da.“ So formulierte es Thyssenkrupp-Stahlchef Bernhard Osburg vor einigen Wochen unumwunden. Die viel diskutierte Förderung von rund zwei Milliarden Euro aus der Staatskasse erhalte sein Konzern daher gerade auch, um die Wasserstoff-Wirtschaft anzukurbeln.
Der Handlungsdruck ist groß. Sollte Thyssenkrupp Steel nicht in der Lage sein, genügend Wasserstoff zu beschaffen, so Osburg, „werden wir diese Förderung auch zurückzahlen müssen“. Entsprechend aufmerksam verfolgt das Thyssenkrupp-Management, wie der Aufbau der Wasserstoff-Infrastruktur vorangeht.
Bis zum Jahr 2032 soll ein sogenanntes „Kernnetz“ mit einer Länge von 9666 Kilometern entstehen. Entsprechende Pläne präsentierten unlängst die deutschen Fernleitungsnetzbetreiber, darunter die nordrhein-westfälischen Unternehmen Thyssengas und der Ruhrgas-Nachfolger Open Grid Europe (OGE). Die langgezogenen Wasserstoff-Leitungen vergleicht Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) mit Autobahnen. Zumindest erinnert eine Deutschlandkarte, auf der die Verbindungen abgebildet sind, an ein Netz von Bundestraßen.
Es geht um ein milliardenschweres Projekt zum Umbau von Deutschlands Industrie. Die Investitionskosten beziffert die Vereinigung der Fernleitungsnetzbetreiber Gas (FNB Gas), ein Zusammenschluss der Unternehmen in der Branche, mit rund 19,7 Milliarden Euro. Ein beträchtlicher Teil davon soll nach NRW fließen. Mit dem Großprojekt würden die Voraussetzungen für einen „Wasserstoff-Hochlauf“ in Deutschland geschaffen, sagt Thomas Gößmann, Vorstandschef von FNB Gas, der auch das Dortmunder Unternehmen Thyssengas führt. Das Ziel sei die „Dekarbonisierung von Industrie und Energieversorgung“. Für den Industriestandort NRW habe das Wasserstoff-Kernnetz „eine zentrale Bedeutung“, urteilt Barbara Fischer, die Geschäftsführerin der FNB Gas.
Bei Deutschlands größtem Stahlkonzern Thyssenkrupp Steel, der künftig Wasserstoff statt Kohle in der Produktion einsetzen will, ist der geplante Umbau besonders tiefgreifend. Doch auch Chemiekonzerne wie der Essener Branchenriese Evonik rechnen mit einem wachsenden Wasserstoffbedarf, unter anderem am Großstandort Marl. Daher beteiligt sich der Ruhrgebietskonzern an einem Projekt namens „GetH2 Nukleus“, bei dem es darum geht, Wasserstoff aus erneuerbaren Quellen von Norddeutschland über ehemalige Erdgas-Pipelines nach Marl und zur benachbarten Raffinerie in Gelsenkirchen zu transportieren.
Der Essener Energiekonzern RWE erklärt, ein Anschluss ans Kernnetz sei eine Voraussetzung, um wasserstofffähige Gaskraftwerke bauen zu können. Nach Angaben von RWE-Spartenchef Nikolaus Valerius plant der Versorger bis zum Jahr 2030 den Bau wasserstofffähiger Gaskraftwerke in Deutschland mit einer Kapazität von drei Gigawatt. Das entspreche mehreren großen Anlagen.
OGE und Thyssengas: NRW-Unternehmen an Großprojekten beteiligt
Rund 60 Prozent der Pipelines im „Kernnetz“ sollen Leitungen sein, durch die derzeit noch Erdgas fließt. Hinzu kommen Neubauten: Zwei der großen Projekte sind beispielsweise die geplanten Wasserstoff-Leitungen von Emsbüren nach Dorsten sowie von Dorsten nach Duisburg-Hamborn, an denen OGE und Thyssengas beteiligt sind. Die ersten Rohre für den Bau von Wasserstoff-Leitungen von Heek zum westfälischen Gasspeichergebiet Epe sind Unternehmensangaben zufolge in Bestellung.
Die Idee des „Kernnetzes“ ist, die wichtigsten Standorte für den Verbrauch und die Herstellung von Wasserstoff miteinander zu verbinden. „Darüber hinaus soll es Anschluss an die Importpunkte sowie Speicher schaffen“, wird bei Thyssengas betont. Wenn klar ist, wie das Netz aussieht, erhöht sich zudem die Planungssicherheit für Unternehmen, die Investitionen im Zusammenhang mit Wasserstoff erwägen. Nun werde das „Henne-Ei-Problem“ gelöst, sagt Kristian Peters-Lach von Open Grid Europe.
Großteil des Wasserstoffs für Deutschland soll importiert werden
Anlagen zur Wasserstoff-Herstellung sind in Deutschland aber noch rar. Wenn die Dortmunder Thyssenkrupp-Tochterfirma Nucera Module für Elektrolyseure liefert, dann vor allem ins Ausland – nach Schweden, in den Nahen Osten oder in die USA. Das schon vor Jahren von der Steag-Firma Iqony angekündigte Wasserstoff-Vorzeigeprojekt „Hydroxy Hub Walsum“ am Stahlstandort Duisburg hat sich hingegen mehrfach verzögert. Je höher die Energiekosten sind, desto weniger rechnen sich Elektrolyseur-Vorhaben in Deutschland.
Die RWE-Managerin Sopna Sury geht davon aus, dass Deutschland 70 bis 80 Prozent des Wasserstoffs, der hierzulande verbraucht wird, importieren muss. Insbesondere Regionen mit viel Wind und Sonne bieten sich nach Einschätzung von Thyssenkrupp-Stahlchef Osburg als Exportnationen an – Länder in Nordafrika oder im Mittleren Osten zum Beispiel. Der Bau von Wasserstoff-Pipelines auch über Deutschlands Grenzen hinaus wäre eine logische Konsequenz. „Wir werden das sicher sehen“, sagte Osburg unlängst. Insofern könnte das Wasserstoff-Kernnetz in Deutschland nur der Anfang für eine grenzüberschreitende Infrastruktur sein.
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