Berlin. Bei den ukrainischen Gegenschlägen in Kursk könnte der dortige Atom-Meiler versehentlich getroffen werden – mit Folgen auch für uns.

Die internationale Atomenergiebehörde (IAEA) ist alarmiert – und warnt vor einem atomaren Zwischenfall am Atomkraftwerk Kursk. Die ukrainische Armee versucht laut russischen Telegram-Kanälen die Grenze zur Region Belgorod zu durchbrechen. Welche Folgen ein Angriff auf das AKW für Deutschland hätte, sagt der Leiter der Abteilung Radiologischer Notfallschutz im Bundesamt für Strahlenschutz, Florian Gering, dieser Redaktion.

Kann das Atomkraftwerk Kursk durch Bomben beschädigt werden?

Kernkraftwerke müssen hohen Belastungen wie zum Beispiel Flugzeugabstürzen standhalten und auch dann die Sicherheit gewährleisten, wenn einzelne Systeme ausfallen. Das bietet auch in Kriegssituationen einen gewissen Grundschutz. Kernkraftwerke sind aber nicht auf kriegerische Angriffe ausgelegt. Eine absichtliche oder unabsichtliche Beschädigung durch Kriegswaffen kann daher schwerwiegende Folgen haben. Seit Beginn des Krieges beobachtet das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) die Lage in der Ukraine daher intensiv und hat diese Beobachtung nun auch auf das Kernkraftwerk bei Kursk in Russland ausgeweitet.

Wie wäre Deutschland bei einem Austritt radioaktiver Strahlen in Kursk betroffen?

Direkte radiologische Auswirkungen auf Deutschland könnte ein Unfall in dem Kernkraftwerk bei Kursk nur bei Wetterlagen haben, bei denen kontaminierte Luftmassen von Kursk nach Deutschland ziehen. Das ist bei weniger als 20 Prozent der Wetterlagen der Fall. Die Auswirkungen auf Deutschland würden sich mit hoher Wahrscheinlichkeit auf Maßnahmen im landwirtschaftlichen Bereich beschränken. Maßnahmen des Katastrophenschutzes wie zum Beispiel die Einnahme von Jodtabletten wären mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht notwendig. Das AKW liegt etwa 35 Kilometer westlich der Stadt Kursk – und rund 1550 Kilometer Luftlinie von Berlin entfernt.

Welche Folgen hätte ein Gau des Kraftwerks für die umliegenden Regionen?

Welche radiologischen Auswirkungen ein Unfall in einem Kernkraftwerk hat, ist vor allem von der Entfernung vom betroffenen Kernkraftwerk, der Wetterlage und der Menge an freigesetzten radioaktiven Stoffen abhängig. Bei einer stabilen Windrichtung ist es zum Beispiel möglich, dass Gebiete, die sich in unmittelbarer Nähe des Kraftwerks befinden aber auf dessen windzugewandter Seite liegen, nicht oder kaum betroffen sind.

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Vor allem in einem Umkreis von 20 bis 30 Kilometern um ein havariertes Kernkraftwerk ist damit zu rechnen, dass in den Gebieten, die von den radioaktiv kontaminierten Luftmassen überstrichen werden, weitreichende Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung wie Evakuierungen oder Verbleiben im Haus sowie die Einnahme von Jodtabletten notwendig werden.

Bis zu einem Umkreis von etwa 300 Kilometern können Teilgebiete so betroffen sein, dass Maßnahmen wie ein zeitweiliges Verbleiben im Haus oder die Einnahme von Jodtabletten sinnvoll sind. Auswirkungen auf die Landwirtschaft und auf die Vermarktung landwirtschaftlicher Produkte können bis zu einem Umkreis von 1000 bis 1500 Kilometern auftreten.

Ist bereits Radioaktivität ausgetreten?

Das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) beobachtet die Lage in der Ukraine angesichts des seit 24. Februar 2022 andauernden Krieges intensiv. Das BfS überprüft täglich etwa 500 bis 600 Messwerte in der gesamten Ukraine. Zusätzlich zu den Messstationen in der Ukraine selbst überprüft das Amt auch Messdaten aus den benachbarten Ländern. Die Messdaten liefern seit Kriegsbeginn keine Hinweise auf eine Freisetzung von radioaktiven Stoffen. Über die Europäische Union stehen auch die Messdaten einer russischen Messstelle in der Nähe von Kursk zur Verfügung. Auch hier sind die Messwerte unauffällig.

Welche Gefahren gehen aktuell von dem beschädigten AKW Saporischschja aus?

Der Brand an einem der Kühltürme des Kernkraftwerks Saporischschja am 11. August hatte nach Angaben der IAEA keine Auswirkungen auf die radiologische Sicherheit der Anlage. Da die Reaktoren seit fast zwei Jahren abgeschaltet sind, ist der Kühlbedarf gering und hängt nicht von den Kühltürmen ab.

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Durch die Abschaltung der Reaktoren hat sich das Gefährdungspotenzial über die Zeit deutlich verringert: Die Menge der in den Reaktoren vorhandenen radioaktiven Stoffe ist wesentlich geringer als zu Beginn des Krieges (als die Reaktoren noch nicht abgeschaltet waren). Mittlerweile sind alle kurzlebigen radioaktiven Stoffe wie Jod-131 zerfallen. Langlebigere Stoffe wie radioaktives Cäsium könnten bei einer Kernschmelze jedoch weiterhin freigesetzt werden.

Zusätzlich ist durch die lange Abschaltung der Reaktoren im Vergleich mit einem laufenden Reaktor nur noch eine geringe Kühlung notwendig. Bei deren Ausfall würden sich die Brennstäbe im Reaktor nicht so schnell erhitzen, sodass viele Tage oder Wochen Zeit blieben, um die Kühlung wiederherzustellen. 

Welche Gefahren gehen vom AKW Saporischschja für Deutschland aus?

Im schlimmsten Fall könnte eine Freisetzung radioaktiver Stoffe aus dem Kernkraftwerk Saporischschja allerdings weiterhin auch Deutschland betreffen. Notfallmaßnahmen in Deutschland würden sich voraussichtlich auf die Landwirtschaft und die Vermarktung landwirtschaftlicher Produkte beschränken. Nach den Berechnungen des BfS ist nicht zu erwarten, dass weitergehende Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung notwendig wären.