Essen. Chinesische Plattformen vertreiben massenweise Billigprodukte. Fachleute sprechen von einer Paketflut. Warum gerade NRW das alarmiert.
Feuchtigkeitsspendende Silikon-Gel-Socken für 1,47 Euro, Katapult-Truthähne als Spielzeug für 2,58 Euro oder eine vermeintliche Smartwatch für 25,48 Euro: Mit billigen und oft skurrilen Produkten feiert die chinesische Online-Plattform „Temu“ in Deutschland große Erfolge - und alarmiert zunehmend die Politik in NRW.
Erst vor rund einem Jahr ist die Plattform in Deutschland an den Start gegangen, über die Kleidung, Elektronik oder Spielwaren zu Kleinstpreisen verkauft wird. Inzwischen kommt man beim Onlineeinkauf kaum noch an dem chinesischen Riesen vorbei: Laut dem Institut für Handelsforschung in Köln kennen über 90 Prozent der Deutschen Marktplätze wie Temu. Allein in Deutschland wird die App bis zu 15 Millionen Mal am Tag besucht, um Unmengen von No-Name-Produkten direkt aus China zu bestellen. Schätzungsweise bis zu 200.000 Pakete schickt Temu tagein, tagaus aus Fernost nach Deutschland.
Fachleute gehen von einem Milliardenschaden für den deutschen Staat aus
Landes-Finanzminister Marcus Optendrenk (CDU) spricht von einer massiven Flut von teilweise gesundheitsgefährdenden Billigprodukten, auf die der Zoll nicht vorbereitet sei. „Eine effektive Kontrolle, was auf unseren Markt gelangt und ob es fair besteuert ist, findet de facto nicht statt“, sagte der Minister mit Bezug auf Plattformen wie Temu oder den Billig-Kleidungsversand Shein. Bei der Finanzministerkonferenz in Bremen forderte NRW strengere Zollvorschriften und Kontrollen und eine bessere Ausstattung der Dienststellen durch den Bund. NRW ist Sitz der Generalzolldirektion und hat Hauptzollämter etwa in Duisburg, wo viele Produkte aus China eintreffen.
Der Hintergrund ist angesichts der angespannten Haushaltslage in NRW und Berlin schnell erklärt: Fachleute werfen den Billig-Plattformen vor, Schlupflöcher beim Zoll zu nutzen und die Behörden regelrecht auszutricksen. „Dem deutschen Staat entgehen Milliarden“, sagt Felix Schirner von der Deutschen Zoll- und Finanzgewerkschaft.
Kein Zoll für Pakete mit einem Warenwert von weniger als 150 Euro
Für Waren aus Drittstaaten müssen Steuern und Zoll gezahlt werden. Letzteres fällt weg, wenn der Wert der Waren im Paket unter 150 Euro liegt. Das ist ein Grund für die billigen Preise, zu denen Temu als eine Art Online-Marktplatz unzählige No-Name-Produkte chinesischer Händler vertreibt: Der Warenwert einer Bestellung liegt oft unter 150 Euro.
Größere Bestellungen würden Temu oder Shein im Zweifel in mehrere Pakete aufteilen, um den Zoll zu umgehen, heißt es von Experten aus NRW. Oder aber, so berichtet ein Beamter, der Warenwert werde geringer ausgewiesen, als er tatsächlich ist. Da lese man vom berühmten einen Euro auf der Rechnung für ein Produkt, das ein Vielfaches koste, erzählt er. Temu und Shein haben solche Vorwürfe stets zurückgewiesen. Die EU-Kommission geht davon aus, dass rund 65 Prozent der Pakete absichtlich mit einem zu niedrigen Wert deklariert worden sind.
Problematisch sei aber auch, wenn Pakete über ein reguläres, vereinfachtes Verfahren in einem anderen EU-Land eingeführt und besteuert werden. Den deutschen Behörden fehlten dann oft Informationen und Kontrollmöglichkeiten, heißt es etwa von der Zollgewerkschaft.
Doppelt so viele Einfuhren allein am Flughafen Köln/Bonn
Deren Sprecher Schirner benennt noch einen weiteren Trick: „Die Betrugsmasche sind Geschenksendungen, die immer deutlicher zunehmen.“ Bei Geschenken bis 45 Euro fällt nicht einmal die Einfuhrumsatzsteuer an, eine der wichtigsten Einnahmequellen des Bundeshaushalts.
Ob die Warengrenzen nicht doch überschritten werden, könne oft nur stichprobenartig überprüft werden: Schirner sagt, die Zollämter bräuchten mehr Personal und mehr Geld für Technik, um der schieren Masse an Einfuhren nachkommen zu können. Allein am Flughafen Köln/Bonn, einem der größten Frachtflughäfen Europas, habe sich die Anzahl der Zollanmeldungen von 2020 zu 2023 verdoppelt. „Wir werden überflutet von den Kleinstpaketen“, so Schirner. Die Generalzolldirektion betont indes, die Bekämpfung betrügerischer Aktivitäten habe eine hohe Priorität. Da alle Waren digital angemeldet werden müssten, könne man sie analysieren. Personal werde effizient eingesetzt, um kritische Warensendungen zu kontrollieren.
Verbraucherschützer warnen vor unsichren Produkten
Verbraucherschützer sorgen sich dennoch, dass zunehmend Produkte in den Haushalten landen, die europäische Standards nicht erfüllten. Sie lassen auch sonst kaum ein gutes Haar an den chinesischen Billigversandhäusern, warnen vor manipulativen Verkaufsmethoden und dem Aushöhlen von Verbraucherrechten.
„Im besten Fall schmeißt man ein defektes Produkt weg, das man nicht mehr zurückschicken kann. Im schlimmsten Fall verletzt man sich.“
„Häufig wissen Verbraucher nicht, dass sie bei einem Einkauf über Online-Marktplätze direkt Waren aus einem Drittland importieren“, sagt etwa Stefanie Grunert, Referentin beim Bundesverband der Verbraucherzentralen. „Es ist kein Händler oder Lager in Europa zwischengeschaltet.“ Das berge viele Probleme. Einerseits hätten Kunden vor Ort kaum Ansprechpartner, um etwa ihr Recht auf Rücksendung oder Gewährleistung durchzusetzen. Anderseits entfielen so Kontrollstellen, an denen Produkte zumindest stichprobenartig auf Mängel geprüft werden könnten. „Im besten Fall schmeißt man ein defektes Produkt weg, das man nicht mehr zurückschicken kann. Im schlimmsten Fall verletzt man sich.“
Glücksrad, Rabatte und Kaufansporn
Kritisch sehen die Verbraucherzentralen auch die Verkaufsmethoden. Sie hatten Temu unlängst abgemahnt, weil es aus ihrer Sicht Kundinnen und Kunden manipuliere. Mit Texten wie „Beeil dich! Über 100 andere Personen haben diesen Artikel im Warenkorb“ setze die App potenzielle Käufer unter Druck, was gegen europäisches Recht verstoße. Inzwischen ist dieser zweifelhafte Konsum-Ansporn auf den Seiten zwar nicht mehr zu finden – Rabatte, Glücksräder und kleine Spiele, die Menschen durch immer neue Kaufanreize möglichst lange auf der Plattform halten sollen, indes schon. „Das Geschäftsmodell von Temu ist die Aufmerksamkeit der Nutzer, damit erzielt sie Werbeerlöse. Dieses Modell ist extrem bedenklich“, sagt Grunert.
Die Fachfrau für Recht und Handel mahnt dringende Veränderungen an, um Plattformen stärker in die Pflicht zu nehmen. Ein Hebel könnte die Zollreform der EU sein, mit der unter anderem die 150-Euro-Grenze abgeschafft werden soll.
Denn der nächste große Mitspieler mache sich schon bereit: Die Videoplattform „TikTok“, das beliebteste soziale Medium unter jungen Menschen, wolle sich ebenfalls als Marktplatz für Waren positionieren. „Sie werden auf einen Schlag Milliarden potenzielle Kundinnen und Kunden haben.“
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