Essen. Prof. Grönemeyer und BKK-Landeschef Janssen sehen Gesundheitssystem vor dem Kollaps. Für gesündere Lebensweise fordern sie drastische Schritte.

Es sind die Zivilisationskrankheiten, also die vom Menschen selbst verursachten Krankheiten, die unser Gesundheitssystem überfordern – davon sind prominente Mediziner und Kassenmanager überzeugt. Nur eine gesündere Lebensweise könne den Kollaps des Ärztenetzes, der Kliniken und Altenheime verhindern, sagen Dietrich Grönemeyer, der Bochumer Pionier der Mikrotherapie, und Dirk Janssen, Chef des BKK Landesverbands Nordwest, im Gespräch mit unserer Redaktion. Dafür fordern sie auch neue Verbote und Pflichten: Eine Zuckersteuer, Warnhinweise auf Süßigkeiten-Verpackungen ähnlich wie auf Zigarettenschachteln, und ein Verbot, Quengelware in Griffhöhe der Kinder zu präsentieren.

Allein für die neun Millionen Diabeteskranken in Deutschland geben die Krankenkassen jedes Jahr mehr als 16 Milliarden Euro aus, Tendenz steigend. Dafür sorgen auch Folgeerkrankungen wie Erblindung, Gefäßverstopfungen und Beinamputationen. Derzeit verlieren in Deutschland jedes Jahr 50.000 Diabetes-Patienten ein Bein.

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Hinzu kommt, dass sich um die wachsende Zahl von Patientinnen und Patienten schon heute zu wenig Fachpersonal kümmern kann. „Wenn wir so weitermachen, wird unser Gesundheitssystem nicht mehr beherrschbar sein, finanzierbar schon gar nicht“, prognostiziert Janssen. Die Konsequenz: „Wir reden dann nicht mehr über Unterversorgung, sondern über eine Nichtversorgung von kranken Menschen.“

Grönemeyer: Diabetes selbst im Urwald auf dem Vormarsch

Professor Grönemeyer rechnet vor: „Uns fehlen heute schon 200.000 Pflegekräfte, da sind die medizinischen Assistenzberufe noch gar nicht mitgerechnet. Bis 2035 wächst die Lücke auf 500.000 Kräfte.“ Der „Gamechanger“ kann für ihn nur eine bessere Prävention sein, damit möglichst viele Menschen gar nicht erst erkranken oder so früh wie möglich behandelt werden, was die Behandlung erleichtern und verkürzen würde.

Im Blick hat Grönemeyer vor allem die Zuckerkrankheit. Er nennt Diabetes „eine weltweite Seuche“, derzeit wisse man von 500 Millionen Diabetes-Patientinnen und -Patienten, aber die Dunkelziffer sei dreimal so hoch. „Als ich bei einem Arzt im Urwald in Südamerika war und ihn nach den häufigsten Krankheiten fragte, nannte er Diabetes an erster Stelle. Selbst im Urwald trinken sie inzwischen Cola statt Wasser und hängen viel zu oft am Handy.“

Prof. Dietrich Grönemeyer in seinem gleichnamigen Institut in Bochum. Der Radiologe sieht in der Zivilisationskrankheit Diabetes eine der größten Gefahren für eine Überlastung des Gesundheitssystems.
Prof. Dietrich Grönemeyer in seinem gleichnamigen Institut in Bochum. Der Radiologe sieht in der Zivilisationskrankheit Diabetes eine der größten Gefahren für eine Überlastung des Gesundheitssystems. © FUNKE Foto Services | Bastian Haumann

In Deutschland werde die Zahl der Zuckerkranken binnen 20 Jahren von neun auf zwölf Millionen wachsen, so die Prognosen. „Wir wissen, dass Diabetes im Durchschnitt erst nach acht Jahren diagnostiziert wird. Die Dunkelziffer von heute wird dann erst sichtbar“, sagt Grönemeyer. „Wir erreichen dann das amerikanische Niveau“, ergänzt Janssen.

Immer mehr Kinder kriegen Altersdiabetes

Was Grönemeyer besonders umtreibt: Die Altersdiabetes Typ II, die eigentlich erst im Alter ab 60 Jahren auftritt, bekommen heute auch immer mehr Kinder und Jugendliche. Das liege vor allem an mangelnder Bewegung und ungesundem Essen. „Wir haben überproportional viele krankhaft übergewichtige Kinder“, sagt Grönemeyer. Das sei die Ursache für die ungebremste Ausbreitung der Diabetes.

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Grönemeyer und BKK-Landeschef Janssen sehen das Gesundheits- und auch das Altenpflegesystem vor einem Kollaps, wenn die Entwicklung nicht gestoppt wird. „Durch Diabetes steigt das Risiko, pflegebedürftig zu werden, um 50 Prozent“, sagt Grönemeyer und fragt: „Wer soll sich dann um die ganzen Pflegefälle kümmern? Wir haben ja heute schon zu wenig Personal.“

Dirk Janssen, Chef des BBK Landesverbandes Nordwest, fordert einen Paradigmenwechsel Richtung mehr Prävention. 
Dirk Janssen, Chef des BBK Landesverbandes Nordwest, fordert einen Paradigmenwechsel Richtung mehr Prävention.  © Foto: BBK Landesverband Nordwest

Um das zu verhindern, fordern Grönemeyer und Janssen neben einer beherzten, von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach mit Milliarden anzuschiebenden Präventionsoffensive auch staatliche Vorgaben und Verbote für die Lebensmittelindustrie und den Einzelhandel. „Kinder sehen 15 Mal am Tag Werbung für Süßes und Fastfood. Da kommen wir allein mit Prävention nicht gegen an“, sagt Grönemeyer. Deshalb fordern er und Janssen Werbeeinschränkungen für die Industrie und die Pflicht zu Warnhinweisen auf den Verpackungen. So wie auf einer Zigarettenschachtel vor Lungenkrebs gewarnt wird, müsse auch auf Süßigkeiten-Verpackungen vor den möglichen Folgen gewarnt und zu maßvollem Verzehr geraten werden.

Sprite hat in Deutschland dreimal so viel Zucker wie in England

Was in Deutschland noch undenkbar erscheint und sicher auf den Widerstand der Hersteller stoßen wird, ist in Großbritannien längst Gesetz. Ebenso eine mit dem Zuckergehalt steigende Strafsteuer auf gesüßte Getränke. Das hat laut Janssen auf der Insel sehr schnell dazu geführt, dass die Hersteller weniger Zucker in ihre Limonaden schütten. „Eine Sprite hat in England 3,6 Gramm Zucker in 100 Millilitern, in Deutschland neun Gramm“, nennt Janssen ein Beispiel. „Auf Saftpackungen stehen zudem Hinweise, man solle nicht zu viel auf einmal trinken oder den Saft verdünnen“, ergänzt Grönemeyer.

Den Supermärkten in Großbritannien wurde zudem verboten, süße Quengelware in Griffhöhe von Kindern zu platzieren, bevorzugt an den Kassen. Auch das sei ein gutes Vorbild, dem Deutschland folgen solle, betonen der Mediziner und der Kassenmanager.

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Zudem solle der Staat über die Mehrwertsteuer gesundes Essen fördern und ungesundes teurer machen. „Vor allem Gemüse muss ganz von der Steuer befreit werden“, rät Grönemeyer. Seit kurzem erlaubt die EU ihren Mitgliedsstaaten, bestimmte Produkte ganz von der Mehrwertsteuer zu befreien. Wie in England sollten dagegen ungesunde Lebensmittel, etwa Limonade, höher besteuert werden. „Auch in den Schulkantinen muss umgedacht werden. Fast Food raus, dafür gesunde pflanzenbasierte Ernährung in den Mittelpunkt“ sagt BKK-Landeschef Janssen.

Das Thema Gesundheit und Ernährung müsse fest im Schulunterricht verankert werden. Nicht nur Betriebskrankenkassen versuchen das, bieten Schulen Unterstützung an. „Vor allem Schulen in Stadtteilen mit sozialen Problemen nehmen das oft nicht an und sagen, sie hätten andere Probleme. Doch gerade dort wäre Aufklärung besonders nötig, leider hängt eine ungesunde Ernährung auch mit den sozialen Umfeld zusammen“, so Janssen.

Grönemeyer: Ärzte und Krankenschwestern in die Grundschulen

Grönemeyer rät, in NRW diese Themen vor allem in der Grundschule zu behaneln, am besten mit Unterstützung von Schulärzten und Schulkrankenschwestern. Idealerweise sollten das Hausärzte aus dem Viertel machen, was ihnen allerdings auch vergütet werden müsse. Was Kassen eigentlich nie gerne hören, unterstützt Janssen: „Wir müssen mehr Geld für Gesunderhaltung ausgeben und dafür Ausgaben für unnötige Behandlungen senken. Potenzial dafür gebe es, so sei im Vergleich zu 2019 die Zahl der Krankenhausoperationen um 13 Prozent gesunken und niemand vermisse sie. „Wir müssen das ganz neu denken, damit das System nicht gegen die Wand fährt.“

„Derzeit geben die Kassen fast ihr ganzes Geld für Behandlungen und Medikamente aus. Wir haben eher ein Krankheitsbehandlungswesen als ein Gesundheitswesen“, sagt Janssen, „wir brauchen einen grundlegenden Paradigmenwechsel auch in der Medizin“.

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Der Mediziner Grönemeyer fordert das auch bei der Ausbildung der Ärzte, in der Prävention bisher kaum eine Rolle spiele. Aber: „Voraussetzung ist, dass dem Arzt ein Gespräch genauso hoch vergütet wird wie eine Behandlung. Bisher verliert der Arzt nur Geld, wenn er sich viel Zeit für eine Beratung nimmt, wie etwa durch gesündere Ernährung ein Herzmittel oder der Insulineinsatz auch wieder verringert oder ganz abgesetzt werden könnte. Bessere Prävention brauche aber auch Investitionen in bessere Technik, etwa die Diabetes-Erkennung über Sensoren, so Grönemeyer. Er fordert zudem, dass ein Diabetes-Test bereits beim Kinderarzt in einer der U-Routinechecks zur Pflicht wird. Auch sollten die Apotheken in die Früherkennung von Diabetes stärker einbezogen werden.