Wesel/Hamminkeln. Sie wurden von den Ornithologen zuletzt schon vermisst: Doch jetzt sind noch mal zehntausende arktische Wildgänse am Niederrhein eingetroffen.

In diesen Tagen sind die Mitarbeiter der Biologischen Station wieder mit Fernglas in der Rheinaue unterwegs: Die Gänse- und Wasservögelzählungen für den Monat Februar stehen an. Viele Naturliebhaber und Hobby-Ornithologen waren übers Wochenende bei zwar kühlem Wind aber Sonnenschein unter anderem auf dem Deich am Rheinufer und auch in der Dingener Heide auf Suche nach besonderen Vögeln – oder auch nach den „üblichen Verdächtigen“.

Das Ehepaar Marita und Klaus Tschersich war extra aus Castrop-Rauxel angereist, um die Schönheit und Weite des Niederrheins zu genießen. An einem Kolk an der Straße Marwick in Bislich erblickt die Spaziergängerin einige Dutzend Blässgänse, die zum Wasser gehen, um zu trinken. Sie schießt sofort gleich mehrere Fotos und schwärmt: „Das ist ja wirklich herrlich!“

Blässgänse trinken aus einem Kolk am Deich bei Bislich, von Spaziergängern etwa 50 Meter entfernt, lassen sie sich nicht stören.
Blässgänse trinken aus einem Kolk am Deich bei Bislich, von Spaziergängern etwa 50 Meter entfernt, lassen sie sich nicht stören. © Johannes Kruck

Einige der Besucher auf dem Deich bezeichnen sich als „Birder“ – so nenen sich die fachkundigen Vogelbeobachter, meist mit Spektiv oder gutem Teleobjektiv ausgestattet, die stundenlang die gefiederten Wildtiere suchen und diese dann auf speziellen Internetseiten melden. Je ausgefallener, umso besser: Zu den absoluten Seltenheiten zählen etwa Bergenten und Samtenten, die jüngst hier registriert wurden.

„Birder“ sammeln Vogelbeobachtungen

Einer, der früher auch „Birder“ war und heute beruflich Wildvögel beobachtet, ist Thomas Traill von der Biologischen Station im Kreis Wesel. Der 34-Jährige hat die Ergebnisse der vorherigen Zählung im Januar ausgewertet und resümiert: „Diesmal passen die Zahlen.“ Denn zunächst fehlten offenbar einige der üblicherweise rund 110.000 arktischen Wintergäste in den Rheinauen von Voerde, Rheinberg, Wesel und Xanten.

Zwei Nilgänse laufen durchs Gras in der Dingdener Heide in Hamminkeln vorbei an einem Weißstorch.
Zwei Nilgänse laufen durchs Gras in der Dingdener Heide in Hamminkeln vorbei an einem Weißstorch. © Johannes Kruck

Zwar sei jede Zählung natürlich nie zu 100 Prozent genau, aber Traill und seine Helfer haben zuletzt 99.012 Blässgänse, 11.222 Weißwangengänse, etwa 2500 Graugänse und rund 1500 Saatgänse registriert. Außerdem zählten sie etwa 400 Nilgänse, 100 Kanadagänse, 60 Rostgänse und auch zehn Brandgänse.

„Das sind Werte, die sich mit denen der letzten Jahre messen können“, ordnet Thomas Traill die neuen Zahlen ein. Bis zuletzt hatte es bei den Ornithologen vor Ort jedoch eine Menge Stirnfalten gegeben: Auch wenn im Frühherbst immer erst ein Teil der Vögel eintrifft, war die Summe von unter 17.000 Wildgänse im Oktober erstaunlich gering. Zwar waren es zum Jahresende immerhin etwa 67.000, doch um diese Zeit würden in manchen Wintern schon sechsstellige Zahlen erreicht, so der Biologe.

Mögliche Gründe für die Verspätung der Wildgänse

Woran mag die „verspätete Anreise“ gelegen haben? Thomas Traill: „Beweise sind natürlich schwierig, doch als erstes steht immer das Wetter in Verdacht. Solange es im Brutgebiet in Nordrussland warm und schneefrei bleibt, gibt es für die Gänse wenig Anlass zum Aufbruch. Erst wenn dichter Schnee sie an der Nahrungssuche hindert, müssen sie ausweichen.“ In der Regel gehe die Reise dann schnell: Notfalls sogar in nur zwei Tagen legen die Vögel die 3000 Kilometer von der arktischen Insel Kolgujew bis an den Niederrhein zurück.

Da die Erderwärmung die Arktis besonders stark aufzuheizen droht, dürften die Gänse in Zukunft immer öfter verspätet nach Europa ziehen, vermutet der 34-Jährige, der schon seit 25 Jahren die Vögel beobachtet.

Es sei auch möglich, dass sich die Überwinterungsgebiete über kurz oder lang wieder von uns weg verlagern. „Bis vor einigen Jahrzehnten gab es bei uns kaum Blässgänse. Mitte des 20. Jahrhunderts war die Saatgans die häufigste Art“, so der Biologe.

Eine Weißwangengans - auch Nonnengans genannt - stolziert über eine Wiese in der Rheinaue bei Wesel.
Eine Weißwangengans - auch Nonnengans genannt - stolziert über eine Wiese in der Rheinaue bei Wesel. © Johannes Kruck

Übrigens: Wer sich unter fachkundiger Leitung die faszinierenden Gäste aus dem Norden vor Ort anschauen möchte, hat dazu am 5. März ab 10 Uhr die Gelegenheit, wenn die Biologische Stadion in Wesel zu einer dreistündigen Exkursion einlädt. Zur Einführung gibt es einen kurzen Filmvortrag zum Thema und einen Gang durch die Wildgänse-Ausstellung. Es folgt eine Busfahrt in die Rheinaue als Hauptteil des Programms. „Ein paar Wochen später werden die Gänse uns dann für etwa sechs Monate wieder Adieu sagen“, erklärt Traill, der ergänzt: „Bis auf ganz wenige Ausnahmen, werden im März alle arktischen Gäste wieder abfliegen.“