Kreis Wesel. Weil das Eis in der Arktis schmilzt, werden junge Wildgänse zum Futter für Polar- und Rotfüchse sowie Eisbären. Weniger Gänse landen bei uns.

Sie sind ein Markenzeichen für den Niederrhein, die Wildgänse, die aus der eisigen Arktis Jahr für Jahr im Herbst in unsere Breiten kommen, um hier zu überwintern. Doch irgendetwas ist diesmal anders. Gefühlt sieht man nicht mehr so oft die großen Schwärme, die in Formation über die Landschaft fliegen oder in Gruppen auf den Wiesen äsen.

Während die einen darüber spekulieren, dass die arktischen Gänse aufgrund des Klimawandels schon deutlich früher ein warmes Ziel erreicht haben und deshalb nicht mehr so weite Wege fliegen müssen, weiß der ehemalige Leiter der Biologischen Station im Kreis Wesel und internationale Gänseexperte Johan Mooij den Grund für den Rückgang der Gänsepopulation. Ja, es ist der Klimawandel. Aber er wirkt sich nicht so aus, wie es die meisten offenbar meinen.

Waren es vor ein paar Jahren noch 30 bis 40 Prozent Jungvögel, die mit ihren Eltern die weite Reise an den Niederrhein antraten, sind es heute vielleicht noch zehn Prozent. Das reicht nicht aus, um die jährliche natürliche Sterblichkeit auszugleichen. „Das sieht nicht gut aus“, sagt Johan Mooij, der aus den Niederlanden stammt und in Xanten wohnt. „Diese Entwicklung ist bei allen arktischen Gänsearten festzustellen.“

Lemminge sind auch betroffen

Hier spielen gleich mehrere Faktoren eine Rolle, wobei auch die Wissenschaftler nicht ganz genau wissen, woran es liegt. Aber Fakt ist, dass auch in der Arktis mildere Temperaturen herrschen. Es gibt immer mehr Winter, in denen das Perma-Eis auftaut und dann wieder friert. Das hat beispielsweise Folgen für die Lemminge, erläutert Experte Mooij. Die mäuseähnlichen Nagetiere, die hier leben, sterben durch den Wechsel von Nässe und Frost, so dass eine wichtige Nahrungsquelle der Polarfüchse langsam versiegt. Sie suchen sich mittlerweile Alternativen und futtern nun auch zunehmend Gänsejunge.

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Auch der Rotfuchs drängt immer weiter nach Norden. Er ist nicht nur größer, sondern auch gefährlicher als der Polarfuchs, weiß der Wahl-Niederrheiner. Und auch die Eisbären mögen junge Gänse. Sie können vielfach das Festland nicht mehr verlassen und sind deshalb an den Küsten unterwegs. Die weißen Riesen sind sowohl auf die Vögel als auch auf die Eier scharf und durchaus in der Lage ganze Kolonien auszurotten.

Landwirte geben riesige Flächen auf

Wie die Situation in der Arktis ist, schildert Johan Mooij, der schon oft zu Forschungszwecken dort war, an einem einfachen Beispiel. Ende der 80er Jahre haben er und seine Kollegen die mitgebrachten Lebensmittel zum Kühlen ins Eis gepackt und dazu etwas 30 Zentimeter tief gegraben. Heute sind schon 70 Zentimeter nötig, um aufs Dauereis zu stoßen. Bis zu den Knien könne man nun dort wegsacken.

Das bleibt nicht ohne Folgen. Es kommen an vielen Stellen keine Gräser mehr vor, weil sie unter Wasser stehen. In Russland wurden deshalb riesige landwirtschaftliche Nutzflächen aufgegeben, sagt der Gänsefachmann. Damit sind den arktischen Wildgänsen die Bereiche genommen, auf denen sie auf dem Weg zu uns eine Rast einlegten. Und so fliegen sie deutlich länger durch und kommen dementsprechend früher hier an. Früher landeten die meisten Blässgänse im November, in diesem Jahr hat Mooij bereits im September erster Exemplare gesichtet. Blässgänse sind es auch, die vor allem unter der Entwicklung leiden. Sie brüten im Juni, die Vögel schlüpfen im Juli. 70.000 seien es einst gewesen, heute sind 10.000 bis 15.000 schon viel.

Die Saatgans wiederum bevorzugt mittlerweile auch Ostdeutschland, wo die Winter mit den Jahren ebenfalls deutlich milder geworden sind. Nur die Bestände der Graugans, die das ganze Jahr über am Niederrhein lebt, wachsen weiter. Deshalb dürfen Graugänse auch in Nordrhein-Westfalen abgeschossen werden.

Gefährdung auch durch Abschuss

Arktische Gänse bleiben vom Beschuss der Jäger hierzulande übrigens verschont, genauso wie in Niedersachsen. In anderen Bundesländern, aber auch in Polen und allen baltischen Staaten werde allerdings „lustig draufgehalten“, wie Mooij es ausdrückt, der durchaus eine Gefährdung des Bestands durch den Abschuss sieht. Dabei laute ein altes Jägermotto: Erst zählen, dann schießen. Die Jagdstrecken seien lang und längst nicht klar, um welche der neun Wildgansarten es sich handelt. Es seien halt einfach Wildgänse.

Zählungen zeigen die Entwicklung auf

Sechsmal werden von Oktober bis März die Gänse im Kreis Wesel gezählt. Daran beteiligen sich neben Mitarbeitern der Biologischen Station im Kreis viele Freiwillige. Auch Johan Mooij, der im Ruhestand ist, macht mit.

Gezählt wird immer am Montag nach dem Sonntag, der der Monatsmitte am nächsten liegt, erläutert Thomas Traill von der Bio-Station. Dabei habe man im Oktober auffallend wenige Gänse ermittelt. Und auch der Dezember liege mit grob kalkulierten 90.000 statt der bislang 100.000 arktischen Wildgänse leicht unter dem Schnitt. 2017 sei das schon ähnlich gewesen.