Kreis Wesel. Dass der Wolf in der Nähe von Häusern auftaucht, ist noch kein Beweis für fehlende Scheu vor Menschen, sagt Katharina Stenglein vom Nabu NRW.
Der Wolf ist ein emotional diskutiertes Thema im Kreis Wesel. Ob die Anwesenheit des Wolfes für Menschen ein Risiko darstellt, warum sich der Beutegreifer den Niederrhein als Lebensraum ausgesucht hat und wo die Grenzen des Zusammenlebens verlaufen, erklärt Wolfs-Expertin Katharina Stenglein vom Naturschutzbund (Nabu) NRW. Die Fragen stellte Rita Meesters.
Häufig wird behauptet, die hiesigen Wölfe hätten die Scheu vor Menschen verloren, weil sie in der Nähe von Häusern gesehen oder bei der Jagd beobachtet werden. Oder weil sie beim Anblick eines Menschen nicht sofort flüchten. Wie erklärt sich dieses Verhalten?
Das Problem ist: Viele Menschen erwarten, dass Wölfe wie Rehe oder Hasen, also klassische Fluchttiere, reagieren. Die Erfahrung mit Wölfen in den letzten 20 Jahren in Deutschland hat gezeigt, dass Wölfe in der Regel nicht aktiv die Nähe zu Menschen suchen, menschliche Strukturen aber durchaus nutzen. Der Wolf zeigt sich auch nicht unbedingt panisch bei einer Begegnung mit einem Menschen, bleibt mal stehen, sichert, schnuppert und trollt sich dann davon. Das kann natürlich den Eindruck erwecken, dass Wölfe bereits an Menschen gewöhnt und nicht mehr scheu sind. Dieses Verhalten ist aber völlig normal für den Wolf. Da Wölfe aber Reviere in einer Größenordnung von 200 bis 350 Quadratkilometern besetzen, die sie auch regelmäßig durchstreifen, liegen menschliche Siedlungen, Dörfer, Häuser, Straßen, aber zwangsläufig auf ihren Laufrouten.
Nicht wenige Einwohner im Wolfsgebiet Schermbeck fürchten auch eine Gefahr für Menschen. Wie schätzen Sie das Risiko ein?
Der Wolf ist ein großes Wildtier und kann somit dem Menschen prinzipiell gefährlich werden. Das kann aber ebenso ein Wildschwein, Hirsch oder auch der beste Freund des Menschen: Ein Hund. Wir können anhand der bisherigen Erfahrung mit Wölfen aber sagen, dass die Gefahr für Menschen sehr gering ist. Seit der Rückkehr der Wölfe nach Deutschland ist es noch zu keinem Fall gekommen, in dem sich ein Wolf einem Menschen aggressiv genähert hätte. Auch internationale Studien zeigen, dass es hauptsächlich dann zu Wolfsübergriffen kam, wenn die Wölfe krank – zum Beispiel tollwütig – waren oder angefüttert wurden. Deswegen ist es wichtig, die „Spielregeln“ einzuhalten: Nicht füttern, nicht versuchen anzulocken, nicht verfolgen. Wenn man in einem Wolfsgebiet unterwegs ist, sollte man Hunde anleinen. Da Wölfe territorial sind, könnte es passieren, dass Hunde als Eindringlinge betrachtet werden, was gefährlich werden könnte, wenn der Hund sich außerhalb der Reichweite des Menschen aufhält.
Zweifelsfrei ist der Wolf jedoch eine Bedrohung für Weidetiere. Es gibt in der Politik Forderungen nach einer Entnahme der Wölfin GW954f wegen der vielen Nutztierrisse. Ist Gloria eine Problemwölfin?
Die Bewertung, ob es sich bei der Wölfin GW954f um eine Problemwölfin handelt, liegt in NRW in der Hand der Monitoringstellen, in NRW ist das Lanuv zuständig. Aufgrund der Abschussforderungen hat das Land ein Gutachten bei der DBBW (Dokumentations- und Beratungsstelle des Bundes zum Thema Wolf, die Red.) in Auftrag gegeben, um anhand der bisherigen Risse im deutschlandweiten Vergleich aufzuzeigen, wie das Verhalten der Wölfin GW954f einzustufen ist. Bisher konnte festgestellt werden, dass bei lediglich vier Übergriffen die Herdenschutzmaßnahmen ausreichend waren und in allen anderen Fällen, und das waren immerhin über 50 Stück in drei Jahren, unzureichender Herdenschutz vorlag. Unabhängig davon, ob diese Wölfin als problematisch oder nicht eingestuft wird, ist es also wichtig, dass der Herdenschutz intensiviert wird. Hierbei kann man auch auf die Beratung der Landwirtschaftskammer zurückgreifen. Das Ergebnis des Gutachtens wird innerhalb der nächsten Woche erwartet. Nähmen wir an, dass es zu einer Entnahme der Wölfin GW954f käme, dann wäre dies keine dauerhafte Lösung. Denn die Landschaft südlich und nördlich der Lippe ist voll mit Wild, hat ein absolut wolfs-attraktives Mosaik aus kleinen Wäldern und Wiesen, Weiden und Feldern. Zudem grenzt der westliche Teil an den Rhein, was bedeutet, dass alle jungen Wanderwölfe, die den Rhein entlang nach Süden wandern, durch die Region kommen. Es wäre eine Frage der Zeit, bis der nächste Wolf auftaucht.
Nachdem zwei Shetlandponys getötet wurden, sorgen sich auch Halter von Pferden und Rindern um ihre Tiere. Bedeutet die Anwesenheit des Wolfes eine Gefahr für größere Weidetiere?
Das kann pauschal nicht mit Ja oder Nein beantwortet werden, weil auch Wolf nicht gleich Wolf ist. Generell lässt sich aber anhand der Erfahrungen festhalten, dass Rinder und Pferde keine große Rolle in der Ernährung von Wölfen spielt. Die bundesweite Statistik zeigt, dass der Anteil von Rindern bei 4,4 % aller Weidetierrisse liegt und bei Pferden bei unter 0,5 %. Die Nahrungszusammensetzung des Wolfes setzt sich laut DBBW in erster Linie aus Rehen, Schwarzwild und Rotwild mit insgesamt über 85 % und aus 1,1 % Nutztieren zusammen. Dennoch kann es vorkommen, dass Rinder und Pferde von Wölfen gerissen werden. Daher ist besonders in Gebieten, in denen einzelne Wölfe gelernt haben, auch diese Nutztiere als potenzielle Beute anzusehen, wichtig, Herdenschutzmaßnahmen zu ergreifen. Im konkreten Fall war es so, dass sich die beiden Shetland-Pony-Risse im Oktober und Januar nachts auf unzureichend geschützten Weiden ereigneten.
Wann spricht man von einem auffälligen Wolf?
Kriterien zur Definition und Konzepte zum Umgang mit auffälligen Wölfen hat die DBBW erarbeitet. Als auffällig gilt ein Wolf beispielsweise, wenn er mehrfach die Annäherung von Menschen unter 30 Metern toleriert. Wichtig: hiermit sind nicht Autos gemeint. Oder wenn er sich selbst mehrfach Menschen auf eine Distanz unter 30 Metern annähert oder sich aggressiv zeigt. Dem gegenüber steht der Begriff der „problematischen“ Wölfe. Hierbei handelt es sich um Wölfe, die vermehrt in engem räumlichen und zeitlichen Kontext die erweiterten Herdenschutzmaßnahmen überwunden haben.
Häufig hört man das Argument, in einer dicht besiedelten Region wie dem Niederrhein sei kein Platz für Wölfe – und nun haben sie bereits Nachwuchs. Wie viel Wolf verträgt unsere Region?
Die Rückkehr der Wölfe ist tatsächlich weniger eine Frage des Lebensraums, sondern mehr der Akzeptanz. Das haben verschiedene Untersuchungen bereits gezeigt. Dennoch benötigen Wölfe natürlich Wasser, Nahrung und einen Lebensraum, in dem sie auch Jungtiere aufziehen können. Dieser muss aber keinesfalls störungsfrei von äußeren Einflüssen sein. Generell ist festzuhalten, dass in einem Wolfsgebiet die Zahl der Wölfe relativ konstant bleibt. Das liegt daran, dass Wölfe territorial sind. Sie dulden keine fremden Artgenossen in ihrem Territorium. Somit ist die Konkurrenz zwischen verschiedenen Rudeln, aber auch innerhalb eines Rudels, ein Mechanismus der natürlichen Dichteregulation. Das Wolfsrudel selbst hat im Schnitt um die acht Tiere. Das Rudel ist so aufgebaut, dass es die beiden sich fortpflanzenden Elterntiere gibt und den Nachwuchs. Die Welpen bleiben eine gewisse Zeit bei den Elterntieren, bis sie abwandern. Momentan gibt es ausreichend Flächen in Deutschland, die von diesen Jährlingswölfen besetzt werden können. Sollte irgendwann der theoretische Fall eintreten, dass alle Territorien besetzt wären, würde sich die Zahl der Nachkommen runterregulieren. Es kann aber nicht passieren, dass in einem Revier auf einmal 20 erwachsene Wölfe oder mehr leben.
Es gibt die Forderung nach einer Obergrenze für Wölfe. Wird der Beutegreifer eines Tages bejagt werden müssen?
Es gibt sicherlich unterschiedliche Sichtweisen. Aus ökologischer Sicht regulieren sich Räuber-Beute-Beziehungen selber sehr gut. Wir kennen zahlreiche Räuber-Beute-Systeme, die über lange Zeit stabil sind. Für die Forstwirtschaft sind aufgrund der Verbissschäden durch Rehe und Hirsche große Beutegreifer wie der Wolf sogar elementare Helfer. Die Frage ist also eher, wie viele Wölfe die Menschen akzeptieren können und werden. Generell gibt es aber auch jetzt schon die Möglichkeit, auffällige oder problematische Wölfe nach §45 des Bundesnaturschutzgesetzes zu entnehmen. Die bestehenden Kriterien für die Entnahme werden derzeit weiter konkretisiert. Aktuell ist eine Bejagung von Wölfen nicht notwendig. Die Entnahme eines als problematisch festgestellten Wolfes ist aber absolut sinnvoll.
Gibt es Regionen, in denen das Zusammenleben von Mensch und Wolf weitgehend störungsfrei funktioniert? Ist die Anwesenheit des Wolfes mit der Weidetierhaltung vereinbar?
Nach der großen Ausrottungskampagne im ausgehenden Mittelalter hat sich die europäische Wolfsverbreitung bis auf die Restpopulationen am Rande Mitteleuropas zurückgezogen. In diesen Regionen starb der Wolf nie aus und die Menschen dort haben nie verlernt, sich mit dem Wolf zu arrangieren. Ob dieses Zusammenleben einfach als „störungsfrei“ bezeichnet werden kann, ist natürlich eine Frage des Standpunkts. Für jeden Weidetierhalter ist ein Leben ohne Wolf sicher bequemer und günstiger. Wir Menschen müssen wieder lernen, mit dem Wildtier Wolf umzugehen. In Wolfsgebieten, in denen Schäfer bereits seit einigen Jahren ohne Schäden ihre Tiere weiden lassen, gibt es kaum Forderungen nach Abschuss. Diese Wölfe haben gelernt, dass die Herdenschutzmaßnahmen effektiv sind. Würden nun Wölfe geschossen werden, würde das Territorium durch andere Wölfe besetzt werden, die erst wieder lernen müssten, dass man an diese Weidetiere nur sehr schwer rankommt. Wichtig ist, immer vor Augen zu haben, dass es keinen 100-prozentig wolfssicheren Schutz gibt. Das A und O ist der Herdenschutz auf großer Fläche, damit Wolf lernt: Hase, Hirschkalb oder Reh sind die einfachere Beute, denn Ziege und Schaf „tun weh“!
>>> DIE WOLFSEXPERTIN SCHRIEB IHRE DIPLOM-ARBEIT ÜBER KOGNITIVE FÄHIGKEITEN DES WOLFS
Die Diplom-Biologin Katharina Stenglein ist beim Landesverband NRW des Naturschutzbundes (Nabu) für das Thema Wolf zuständig und kümmert sich als Projektkoordinatorin um Bildungsprojekte wie „Die Rückkehr des Wolfes nach NRW“ und „Der Wolf macht Schule“. Solche Projekte sollen die Akzeptanz des Wolfes in der Bevölkerung stärken.
Schon während ihres Studiums beschäftigte sich die 34-Jährige mit dem Beutegreifer und schrieb ihre Diplomarbeit am Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie über die kognitiven Fähigkeiten des Wolfes im Vergleich zum Hund.