Oberhausen. Oberhausenerin Elvira Prescher hat in ihren schlimmsten Zeiten am Bahnhof übernachten müssen. So gelang ihr der Weg zurück in ein normales Leben.

Arm sind die anderen? Falsch. Armut kann jede und jeden treffen. Fast 80.000 Wohnungslose gab es 2022 in NRW. Doch wie fühlt sich Armut an? Vielleicht so: Sie stehen in einer Bäckerei, der Duft von Zimt und Mandeln lässt Ihnen das Wasser im Mund zusammenlaufen. Die Schlange vor Ihnen wird immer kürzer. Jeder der Wartenden verlässt den Laden mit einer gut gefüllten Papiertüte – und dann sind Sie dran. Sie schauen in Ihre Geldbörse, aber da ist nichts drin. Sie drehen sich um und gehen mit leeren Händen und knurrendem Magen aus dem Geschäft. Elvira Prescher erlebte viele dieser Momente. Sie war obdachlos, stürzte ins Bodenlose. Heute kämpft die 40-Jährige im Organisationsteam der Nationalen Armutskonferenz in Berlin gegen Vorurteile und Armutsursachen. Sie sagt: „Es läuft viel schief bei uns, niemand müsste auf der Straße landen.“

Vorurteile erschwerten der alleinerziehenden Mutter die Rückkehr in den Beruf

Ein großes Problem seien Vorurteile. Auch Elvira Prescher bekam sie oft zu hören. Dazu gehört: „Wer arm ist, ist selber schuld.“ Besonders beliebt auch: „Hättest du in der Schule mal besser aufgepasst, wäre das nicht passiert.“ Elvira Prescher weiß: Wer dreckig aussieht, wird wie Dreck behandelt. Sie schüttelt den Kopf und muss dennoch lächeln. Das macht sie nicht gerne. Denn einer ihrer Schneidezähne fehlt noch immer. „Kein Geld für eine Zahnbehandlung“, erklärt sie kurz und erlaubt dann einen Blick in ihre Vergangenheit. Die Schule hat sie abgeschlossen, eine Ausbildung zur Friseurin gemacht. Als ihre erste Tochter zur Welt kam, war sie 19 Jahre alt, zwei Jahre später wurde die jüngere geboren. Die Trennung vom Vater der Kinder traf sie hart. Das Gleiche galt für die Vorbehalte möglicher Arbeitgeber nach ihrer Ausbildung: „Als alleinerziehende Mutter bekam ich nur Angebote für Minijobs.“

Ihre Sehnsucht nach Anerkennung und Liebe war groß und lockte sie in die falschen Arme: Der neue Freund entpuppte sich als Schläger. Die Töchter fanden Unterschlupf bei Oma und Opa, während Elvira Prescher ihre Verletzungen in einer Klinik auskurierte. Die äußeren heilten, die inneren nicht. „Mit nichts stand ich dann nach meiner Krankenhaus-Entlassung in Oberhausen da.“ Die Hilfe ihrer Eltern wollte sie nicht in Anspruch nehmen. „Sie hatten doch schon die Kinder aufgenommen, ich schämte mich.“ Sie gab nicht auf, fand eine Wohnung, zog ein – und sollte doch wieder scheitern.

Ihre wenigen Sachen packte sie am Hauptbahnhof in Oberhausen in ein Schließfach

„Denn die meisten meiner Anträge wurden vom Amt oft erst einmal abgelehnt, ich musste für alles kämpfen.“ Irgendwann konnte Elvira Prescher nicht mehr. Sie resignierte, beantragte gar nichts mehr, öffnete auch ihre Post nicht. Als die Zwangsräumung kam, hatte sie gerade einen Vollzeitjob gefunden. In den ersten Tagen zog sie in ein Hotel. Aber das Gehalt reichte nicht. In der Arbeit ließ sie sich nichts anmerken. Ihre wenigen Sachen hatte sie am Hauptbahnhof in Oberhausen in ein Schließfach gepackt. Nachts hockte sie in einem der Gänge am Bahnhof in einer Nische. Zufällig hörte sie vom Carl-Sonnenschein-Haus. „Ich fuhr mit dem Bus hin und durfte bleiben – das war mein großes Glück.“

Denn im Carl-Sonnenschein-Haus, einer Facheinrichtung der Wohnungslosenhilfe in Oberhausen, fand sie neben einem sicheren Schlafplatz den Halt, den sie so dringend benötigte. „Hier war ich einfach nur die Elvira und plötzlich wieder ein ganz normaler Mensch.“ Hilfe zur Selbsthilfe lautet das Konzept, das ihr auf die Füße half. Ein regelmäßiger Tag- und Nacht-Rhythmus gehört dazu, die Holz AG und die Garten AG, in denen sie mit ihren Händen kleine Wunder vollbrachte und nach langer Zeit so etwas wie Stolz verspürte.

80 Plätze für wohnungslose Menschen

Im Carl-Sonnenschein-Haus an der Bebelstraße 205 in Oberhausen gibt es insgesamt 80 Plätze, von denen in separaten Wohnbereichen acht Plätze für Frauen reserviert sind.

Das Angebot wird durch Kurse und eine stationäre sowie ambulante Betreuung ergänzt. Die Bewohner haben die Möglichkeit, an beruflichen Integrations- und Qualifizierungsmaßnahmen teilzunehmen.

Der Kampf mit den Ämtern blieb einer „gegen Windmühlen“. Aber sie stritt nicht mehr alleine. Mit den Sozialarbeitern des Hauses füllte sie Anträge aus, schrieb Briefe, dokumentierte Faxe. Hartz IV wurde genehmigt, ein Platz in einer Wohngemeinschaft ebenfalls. Am 11. Oktober 2023 zog sie ein. Die ambulante Betreuung durch eine Sozialarbeiterin des Carl-Sonnenschein-Hauses gibt ihr bis heute Sicherheit.

Teilnahme an der Nationalen Armutskonferenz in Berlin

Marc Wroblewski, der das Carl-Sonnenschein-Haus für den Caritasverband in Oberhausen leitet, erkannte ihren großen Sinn für Gerechtigkeit und schlug sie für eine Teilnahme an der Nationalen Armutskonferenz Ende Oktober 2023 in Berlin vor. Es klappte. Elvira Prescher arbeitete im Workshop Wohnen mit und zeigte dort auf, wie existenzbedrohlich die aktuelle Lage am Wohnungsmarkt für Menschen mit wenig Geld ist. „Millionen sind von Wohnungsnot betroffen. Das ist ein ganz zentrales Problem und muss endlich zur Kenntnis genommen werden. Die Politik muss ihrer Verantwortung nachkommen, dagegen wirksame Maßnahmen umzusetzen“, fasste sie das dringende Anliegen aller Beteiligten für die Presse zusammen.

Marc Wroblewski, Leiter des Carl-Sonnenschein-Hauses der Caritas in Oberhausen.
Marc Wroblewski, Leiter des Carl-Sonnenschein-Hauses der Caritas in Oberhausen. © FUNKE Foto Services | Lars Fröhlich

Denn es gehe hier nicht um irgendeine Angelegenheit neben anderen, sondern um ein Leben in Würde: „Wohnen ist ein Schutzraum und zugleich Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben“, sagt Prescher. Leerstand durch Spekulationen müsse beendet werden. „Auch eine funktionierende Mietdeckelung muss her, denn selbst für den Mittelstand sind die Mieten zu hoch.“

Heute sitzt Elvira Prescher im Organisationsteam für die nächste Veranstaltung in Berlin im kommenden Jahr. Sie will jetzt selbst dazu beitragen, dass weniger Menschen auf der Straße landen. Elvira Prescher lächelt – und diesmal lächelt sie gerne.

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