Oberhausen. Udo Neidig stolpert, stürzt. Das ist sein Glück. Sein Fall führt den Obdachlosen zurück in ein Leben voller Wärme, mit einem Dach über dem Kopf.

Was ist Glück? Für Udo Neidig gibt es auf diese Frage nur eine Antwort: „Menschen, die sich kümmern, ein Dach über dem Kopf und ein trockenes, warmes Bett.“ Um dieses Glück wiederzufinden, musste der Oberhausener 72 Jahre alt werden.

Udo Neidig sitzt in seinem Sessel und schlägt keck die Beine übereinander. Er lächelt. Der Fernseher läuft, die rote Decke auf seinem Bett ist ordentlich gefaltet. Der Oberhausener strahlt. Er ist in seinem neuen Zuhause angekommen. Die Alten- und Pflegeeinrichtung Haus am Buschkämpen hat den Obdachlosen aufgenommen. Der Alltag auf der Straße hat Spuren hinterlassen, an seinem Körper, in seiner Seele. Aber das ist Vergangenheit.

Eine Vergangenheit, an die Neidig nicht gerne zurückdenkt. Geboren und aufgewachsen ist er in Duisburg. Die Schule hat er abgeschlossen, eine Ausbildung nie gemacht. Als Hilfsarbeiter war er auf dem Bau tätig, zumindest eine Zeit lang. 1993 sollte sein Schicksalsjahr werden. Damals starb seine Mutter. Mit dem einzigen Menschen, der sich je liebevoll um ihn gekümmert hat, verlor er die Wohnung. Die Straße wurde der Ort, der seine Existenz gefährdete, jeden Tag aufs Neue – für viele Jahre.

Passanten riefen einen Rettungswagen

Wie war das, immer da draußen leben zu müssen? „Kalt“, sagt Neidig und meint damit mehr als die frostigen Nächte. Von den anderen Obdachlosen hielt er sich fern. Er griff nie zur Zigarette, nie zum Alkohol, nie zu Drogen. Irgendwann führte ihn sein Weg nach Oberhausen. Er blieb. Weil er in den Geschäften an der Marktstraße Menschen fand, die ihm halfen. Hier bekam er etwas zu essen, dort ein paar Klamotten oder ein wenig Geld. Das Alter ließ ihn kraftlos werden. Zuletzt lag er tagelang nur noch auf einer Matratze, konnte sich kaum mehr bewegen. Als er sich auf der Suche nach etwas Essbarem doch erhob, stolperte er und stürzte. Mit schweren Verletzungen landete er dort, wo er sich eh schon befand: am Boden. Passanten riefen einen Rettungswagen. Mit dem Blaulicht kehrte das Licht in sein Leben zurück.

Denn der immer höfliche, so unfassbar herzlich gebliebene alte Mann fiel den Mitarbeitenden des Sozialdienstes in der Helios St. Elisabeth Klinik Oberhausen auf. Sie wollten etwas für ihn tun und legten im Haus am Buschkämpen ein gutes Wort für ihn ein. Obwohl die Kostenfrage längst nicht geklärt war, empfingen ihn dort offene Türen. Wie soll man seinen Zustand beschreiben, als er ankam?

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„Wir waren sprachlos“, räumt Stationsleiter Karim Perfetto (25) ein. Die Folgen des Sturzes, alte Hauterkrankungen und Bewegungseinschränkungen hatten den 72-Jährigen bettlägerig werden lassen. Dem Team der Senioreneinrichtung war gleich klar: „Das ist kein Fall für unsere Kurzzeitpflege.“ Auch Pflegeassistentin Valentina Ejodamen (39) kümmerte sich. Während Udo Neidigs Wunden heilten, stellten die Mitarbeitenden der Einrichtung Anträge. Ein gesetzlicher Betreuer musste her, ein Rollstuhl und Kleidung. Die Pflegekräfte sammelten Spenden wie Hosen, Hemden, Jacken und ernteten Begeisterung. „Ach, das ist ja eine Levis-Jeans, die kenne ich noch aus meiner Kindheit!“, freute sich der Beschenkte.

Pflegeassistentin Valentina Ejodamen und Stationsleiter Karim Perfetto mit Udo Neidig (Mitte) beim Rollator-Training im Haus am Buschkämpen in Oberhausen.
Pflegeassistentin Valentina Ejodamen und Stationsleiter Karim Perfetto mit Udo Neidig (Mitte) beim Rollator-Training im Haus am Buschkämpen in Oberhausen. © FUNKE Foto Services | Kerstin Bögeholz

Mit dem Rollator in den nächsten Supermarkt

Mit dem Rollstuhl eroberte Udo Neidig schon bald die Gänge, erst im Sitzen, nach knapp vier Wochen – überraschend für alle – stehend. „Wir besorgten sofort einen Rollator“, erzählt Perfetto. Die Bescheidenheit des Mannes berührte alle. „Als seine Bettdecke einmal nass geworden war, hatte er sie auf die Erde gelegt und einfach ohne sie geschlafen, er hat nichts gesagt“, erinnert sich der Stationsleiter. Als er Neidig am nächsten Tag fragte, weshalb er sich nicht gemeldet hat, habe er geantwortet: „Ach, mir geht es doch so gut bei euch, ich habe doch mein warmes, weiches Bett, mehr brauche ich nicht.“

Haus am Buschkämpen bietet Platz für 87 Senioren

Seit 2006 gibt es in Oberhausen-Borbeck das Haus am Buschkämpen. In der Alten- und Pflegeeinrichtung finden 87 Bewohnerinnen und Bewohner ein neues Zuhause. Betreut werden auch Menschen mit mittelschweren bis schweren dementiellen Veränderungen. Es gibt fünf Kurzzeitpflegeplätze.

Die 87 Betten sind aufgeteilt auf drei Etagen (sieben Zweibettzimmer und 73 Einzelzimmer). Die Zimmer sind zu Wohngruppen gemischt zusammen gefasst, so dass die Bewohner einer Gruppe von acht bis maximal zwölf Personen jeweils zusammenleben.

Inzwischen steht fest: Der Senior darf bleiben. Er fühlt sich längst zuhause, das Team ist seine Familie geworden. Kaum war sein Taschengeldkonto eingerichtet, zog der 72-Jährige mit dem Rollator los in den nahen Supermarkt. „Er kaufte Süßigkeiten und Limonade und wollte uns alles schenken, als Dankeschön“, erzählt Valentina Ejodamen. Udo Neidig lächelt. Er blüht richtig auf, gewann den letzten Kegelpokal beim Haus-Turnier, ist zum leidenschaftlichen Bingo-Spieler geworden. Neidig freut sich über jede Mahlzeit und über die Wärme im Haus am Buschkämpen. Nur eines mag er bis heute nicht: „Singen.“

Was ist Glück? Für die Mitarbeitenden der Senioreneinrichtung Haus am Buschkämpen sind es Bewohner wie Udo Neidig. Sie haben ihm durch ihr Können wieder auf die Beine geholfen. „Was gibt es Schöneres?“