Oberhausen. Notambulanzen sind überfüllt mit Patienten, die heftig auf Insektenstiche reagieren. Doch wer da genau zusticht, gibt den Ärzten auch Rätsel auf.
Ein paar Rosenblätter waren der 85-Jährigen ein Dorn im Auge. Sie zupfte hier, sie zupfte dort und schon war die Sache erledigt – mit bösen Folgen. Schnell stellten sich Schmerzen in der Kniekehle ein. Am Abend zeigte sich ein Kirschkern-großer Knubbel mit knallrotem Rand. Die Abklärung in der nächsten Notfall-Ambulanz bescherte ihr ein Penizillin-Rezept und hinterließ viele Fragezeichen. Denn kein Mediziner hatte den eindeutigen Insektenstich einem bestimmten Tier zuordnen können. Noch merkwürdiger war: Jeder dritte Patient in der Notaufnahme war ebenfalls gestochen worden.
„Auch wir bemerken einen Anstieg an Patientinnen und Patienten mit Stichreaktionen“, bestätigt Prof. Dr. Alexander Kreuter auf eine Anfrage dieser Redaktion. Der Chefarzt der Dermatologie, Venerologie und Allergologie der Helios St. Elisabeth Klinik Oberhausen ergänzt: „Es kommen aktuell bis zu 20 Notfälle täglich mit akuten Stichreaktionen in unsere Zentrale Notaufnahme bzw. in unser Allergienetzwerk.“ Dank des milden Winters und der heißen Temperaturen im Sommer hätten Wespen, Mücken, Bremsen, Flöhe und Co. gerade Hochsaison. „Insbesondere durch das derzeitige Klima mit einer Kombination aus Regenschauern und warmen Temperaturen vermehren sie sich verstärkt.“ Der Naturschutzbund Deutschland hatte im Juni 2023 zur Insektenzählung aufgerufen und war dabei auch auf diese Auffälligkeit gestoßen: Vor allem die europäische Hornisse erreichte einen erstaunlichen Spitzenplatz.
Wer da nun aber genau zugestochen hat, sei später oft gar nicht eindeutig festzustellen. Dazu kommt: „Der Klimawandel und das Reiseverhalten bringen bislang nicht-heimische Insekten, vor allem Mücken, und damit Infektionskrankheiten nach Deutschland – auch in die Region in und um Oberhausen“, stellt Kreuter fest. Leishmaniosen, aus der Gruppe der sub-/tropischen Infektionskrankheiten, gehörten dazu. Ein weiteres, besonders stichfreudiges Beispiel sei auch die asiatische Tigermücke. „Diese Insekten übertragen mitunter gefährliche virale Infektionen, wie das Dengue- und das Zika-Virus, und Erkrankungen, die wir noch gar nicht kennen.“
Allergiker können nach einem Insektenstich besonders heftige Reaktionen entwickeln
Bislang verliefen die meisten Stiche oder Bisse in Oberhausen aber noch ungefährlich. Kritisch würde es dagegen häufiger für Allergiker. „Die sollten in jedem Fall eine Notaufnahme aufsuchen, denn bei ihnen kann ein Stich zu einem anaphylaktischen Schock führen und damit lebensbedrohlich werden.“ Doch auch für alle anderen Gestochenen gilt diese Regel: „Wenn sich eine Rötung und Schwellung ungewöhnlich weit ausbreitet oder die Schmerzen sehr stark werden, sollte man medizinische Hilfe suchen.“
Allergische Reaktionen auf Insektenstiche treten bei bis zu 25 Prozent der Bevölkerung auf, führt Michael Reindl, Chefarzt der Klinik für Akut- und Notfallmedizin im Ameos Klinikum St. Clemens Oberhausen, aus. Maximal 3,5 Prozent entwickelten eine lebensbedrohliche Schockreaktion. „In Deutschland werden jährlich etwa 20 Todesfälle dokumentiert.“ Ist bereits eine ausgeprägte allergische Reaktion auf Insektenstiche bekannt, schreibe der behandelnde Arzt ein Notfallset auf. „Dieses Set enthält abschwellend wirkende Medikamente gegen die allergische Reaktion sowie Adrenalin für den Fall eines Kreislaufschocks.“ Betroffene sollten es stets bei sich führen. Besondere Vorsicht sei bei Stichen im Mund- und Halsbereich geboten, ergänzt Dr. Andrea Büchner, Ärztliche Leiterin der Zentralen Notaufnahme am Evangelischen Krankenhaus Oberhausen. Bei akuter Atemnot, Übelkeit, Schwindel oder Herzklopfen nach einem Insektenstich sollte sofort ein Rettungswagen gerufen werden.
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Bleibe es dagegen bei einer leichteren Schwellung oder Juckreiz könnten kühlende Umschläge helfen und Antihistaminika (antiallergische Medikamente). Bei Bienenstichen sollte der Stachel, falls er noch steckt, stets mit einer Pinzette vorsichtig entfernt werden, „um die weitere Giftabgabe zu verhindern“, meint Büchner. Wachsamkeit sei aber auch in diesen Fällen gefragt, warnt Reindl. „Denn ein Insektenstich kann sich entzünden und im schlimmsten Fall zu einer Sepsis – also einer Blutvergiftung – führen.“ Diese Entzündung entstehe dadurch, dass nach dem Aufkratzen eines juckenden Stichs schnell Bakterien in die Haut gelangen könnten.
Bei einzelnen Patientinnen und Patienten mit schweren Entzündungsreaktionen sei sogar eine stationäre Behandlung erforderlich, sagt Büchner. „Dann sind Antibiotika die Mittel der Wahl.“ Das gelte auch für die sogenannte Wanderröte nach einem Zeckenbiss, die ein Warnsignal für eine Borreliose sei und „durch Antibiotika sofort behandelt werden muss“. Darüber hinaus übertragen Zecken inzwischen auch vereinzelt in Nordrhein-Westfalen die sogenannte Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME), gegen die es bislang keine Medikamente gibt. „Dafür aber eine Impfung, mit der man sich im Vorfeld gut schützen kann.“
Welches Insekt könnte da bloß zugestochen haben?
Wichtig für eine Behandlung und den Ausschluss eines allergischen Schocks ist es natürlich schon gut zu wissen, welches Tier da zugestochen hat. Alexander Kreuter erklärt: „Grund für akute Stichreaktionen sind meist Hymenoptera, also Bienen, Wespen, Hornissen und Hummeln.“ Steigern sich die Symptome nur langsam, sei ein Mückenstich wahrscheinlich. Drei bis vier Stiche in einer Linie seien charakteristisch für Flöhe – übertragen durch Katzen oder Hunde – oder Wanzen.
„Hunderte, stark juckende Stiche deuten auf Milben hin“, führt Kreuter aus. Von Juli bis Oktober komme es deshalb gerade in der Landwirtschaft immer wieder zur sogenannten Erntekrätze. Hinweise könne außerdem der Ort geben. „So deutet ein Gang zum Mülleimer beispielsweise auf eine Wespe hin.“ Ein Stich bei einem Spaziergang durchs Feld lasse auf eine Biene schließen. Manche Menschen werden häufiger gestochen als andere. „Grund dafür sind etwa bestimmte Körpergerüche, also Duftstoffe im Schweiß.“