Oberhausen. In der Türkei wird gewählt – und das Ergebnis weltweit mit Spannung erwartet. Was macht das mit denen, die das Land als zweite Heimat betrachten?

Am Sonntag wird in der Türkei ein neues Parlament und ein neuer Präsident gewählt. Was geht mich das an? Ich bin im Ruhrgebiet geboren und aufgewachsen, arbeite hier und ziehe meine Kinder hier groß. Nicht einmal fürs Studium habe ich meine Heimat verlassen.

Warum nur kribbelt es dann so sehr in meinem Bauch, je näher der Wahltermin in der Türkei rückt? Warum schlägt mein Herz so hoch, wenn ich die Schlagzeilen über das Kopf-an-Kopf-Rennen von Erdoğan versus Kılıçdaroğlu lese? Als ich Tagesthemen-Sprecherin Caren Miosga auf dem Bildschirm sehe, wie sie aus Istanbul berichtet, drücke ich vor Aufregung so lang auf die Plus-Taste für Lautstärke, bis es dröhnt.

Viele fragen sich in diesen Tagen, warum nicht nur die erste Einwanderer-Generation, sondern auch die zweite, dritte und vierte so inbrünstig über die türkische Politik debattiert und zu den Wahlurnen in Deutschland drängt. Vielleicht liegt es daran, dass die Menschen aus den Fernsehberichten so aussehen wie wir. Weil wir die Sprache verstehen, in der sie sprechen. Ich sage: Es ist das alles – und noch viel mehr.

Die politischen Verhältnisse im Land der Eltern: so fern wie die nächsten Sommerferien

Mein Vater kam 1969 aus Südostanatolien in den Pott; „aus Abenteuerlust“, wie er bis heute betont. Meine Mutter folgte ihm 1977 nach der Heirat. Bei meinen Brüdern und mir steht „Duisburg“ als Geburtsort im Personalausweis. Wir waren oft in der Türkei, und lange: Fast alle Sommerferien unserer Schulzeit verbrachten wir bei unseren Verwandten, ganze sechs Wochen.

Deutsch-Türken geben ihre Stimme ab vor den Wahlen im Mai 2023 in der Messe in Essen.
Deutsch-Türken geben ihre Stimme ab vor den Wahlen im Mai 2023 in der Messe in Essen. © FUNKE Foto Services | Fotograf Kerstin Kokoska

Nach den tränenreichen Abschieden (es wurde viel geheult und Wasser auf die Straße gegossen, damit wir genauso schnell wieder zurückkehren, wie es den Weg entlangfließt). So kehrten wir in unser deutsches Leben zurück und dachten nur wenig an die staubige Hitze der Heimatstadt unserer Eltern, an die teils einfachen, ärmlichen Verhältnisse, in denen unsere Großeltern und die Geschwister von Mama und Papa lebten. Die Geschichten über verschwundene, verfolgte, gefolterte Menschen wirkten so unglaublich aus der Entfernung. Die türkischen Zeitungen mit den fetten Lettern, die grellbunten Fernsehprogramme mit den schreienden Moderatoren – sie hatten nichts mit unserem geordneten Alltag zu tun.

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Und so ist es bis heute: Alles, was mit der Türkei zu tun hat, fühlt sich fremd an – und doch so eigentümlich vertraut. Das Türkische und Kurdische in mir, ich werde es niemals abschütteln können. Das will ich auch gar nicht. Dass ich mich für die Wahlen in der Türkei interessiere, hat nichts mit der Tatsache zu tun, dass ich bis zu meinem 23. Lebensjahr einen türkischen Pass hatte - und keinen deutschen. Den bekam man damals noch nicht automatisch, wenn man hier geboren wurde.

Als ich Deutsche auf dem Papier wurde, hat sich natürlich etwas verändert; vor allem, dass ich hier wählen durfte. Die Beziehung wurde irgendwie offiziell – wie bei einer Heirat. Meine Gefühle zum Heimatland meiner Eltern hingegen änderten sich nicht. Sie blieben innig und erhielten noch mehr Tiefe durch meinen journalistischen Blick auf Politik und Gesellschaft dieses Landes. Als Erwachsene erlebe ich auch die Urlaube anders, sehe die bitteren Folgen von Inflation und Währungsabsturz für meine Tanten, Onkel und Cousins ganz unmittelbar.

Vor den Wahlen in der Türkei: Mitgefühl statt Desinteresse

Wie finde ich es also, dass derzeit viele meiner Gespräche mit der Frage enden: „Und, schafft ihr den Erdoğan jetzt ab?“ Wenn ich das „ihr“ darin überhöre, dann: richtig gut. Wie sagte Saadettin Tüzün, Oberhausener CDU-Lokalpolitiker, im Interview neulich zu mir: „Es ist doch gut, dass die deutsche Gesellschaft sensibilisiert ist in diesen Tagen und sich für unsere Gefühlslage interessiert. Das Gegenteil ist Desinteresse.“

Er hat recht. Man wird mir immer ansehen, dass ich Wurzeln im Orient habe. Das finde ich inzwischen richtig schön. Wenn die Menschen um mich herum das auch akzeptiert haben, macht es mich einfach nur glücklich.