Mülheim. Lärm, Wildparker, Baustellen: Was manch einen stört, wird für Blinde zur Herausforderung. Was es bedeutet, per Taststock durch die City zu gehen.
Das Polizeiauto rast mit Sirenengeheul über die Kreuzung am Berliner Platz, kurz zucken alle zusammen, dann sagt Maria St. Mont trocken: „Jetzt ist die Ampel wieder aus.“ Wenn die 60-Jährige von einer Ampel spricht, denkt sie nicht an Lichtsignale, an Rot, Gelb oder Grün. Sie hört dann das Klicken und Klackern und spürt das Vibrieren. Maria St. Mont ist blind und bewegt sich vor allem hörend, tastend und mit ihrem Blindenhund Chilli durch die Stadt. Und das ist enorm herausfordernd, wie man bei einem Spaziergang mit ihr erfährt.
Die akustischen Ampeln geben durch ihr Klackern ein so genanntes Auffindesignal von sich, das in einem Radius von etwa fünf Metern zu hören sein sollte. Sie sind an die Umgebungslautstärke gekoppelt und schalten sich bei übermäßigem Lärm wie etwa Sirenengeheul aus. Das Klackern setzt erst wieder ein, wenn jemand den Aufforderungsknopf an der Ampel betätigt. Für Maria St. Mont ist das Alltag, für Sehende eine unbekannte Welt.
Orientierung für Blinde mit Noppen und Rillen auf dem Boden: Wie geht das?
Genauso wie man sich kaum vorstellen kann, dass die verschiedenen Platten mit Rippen und Noppen, die in den Bürgersteig der Leineweberstraße eingelassen sind, wirklich als Leitsystem fungieren können. Für Christian Wolff sind die Bodenmarkierungen unverzichtbar, denn im Gegensatz zu Maria St. Mont ist er ohne Blindenhund und ausschließlich mit Taststock unterwegs. Mit dem Stock kann er nicht nur ablesen, wo der Bürgersteig entlang führt. Der 54-Jährige kann auch die Laufrichtungen bei einer Straßenüberquerung ertasten sowie Knotenpunkte, von denen mehrere Wege abgehen. Es ist fast, als gäbe es eine verborgene Topographie, ein rätselhaftes Wegenetz in dieser Stadt, dessen Ausmaß einem bislang verborgen blieb. Zusätzlich helfen Karten-Apps mit Sprachfunktion bei der Orientierung.
Während Maria St. Mont und Christian Wolff all das erklären, kommt von der Seite mit lautem Gebrüll eine Schulklasse angelaufen. Ein Taxifahrer rollt mal eben über den Bürgersteig der Leineweberstraße. „Am schlimmsten sind die Elektroautos der ersten und zweiten Generation. Die hört man nämlich gar nicht“, kommentiert Christian Wolff. Maria St. Mont schaltet sich gleich mit der Frage ein: „Was machst du eigentlich, wenn du an einem Zebrastreifen stehst und hörst, dass ein Auto für dich hält?“ „Ich laufe los“, sagt er nüchtern. Maria St. Mont winkt lieber durch und verlässt sich auf sich selbst statt auf fremde Autofahrer.
Und dann parkt einfach jemand mitten auf dem Blindenleitstreifen
Und dann ereignet sich ein Paradebeispiel wie auf Bestellung. Direkt neben den beiden bremst sich ein Fahrzeug ein, parkt verbotenerweise auf dem Bürgersteig der Leineweberstraße und zwar mitten auf dem Blindenleitstreifen. „Das wird aber teuer, wenn Sie erwischt werden“, sagt Christian Wolff, als der Fahrer an ihm vorbeigeht. Der lächelt die Situation zunächst weg, sagt, dass er nur kurz etwas abgeben möchte. Dann jedoch ergänzt Maria St. Mont: „Wir könnten uns dadurch verletzen.“ „Da haben Sie recht“, sagt er sofort und geht zurück zum Wagen.
„Mülheim ist grundsätzlich gut aufgestellt“, bilanziert Christian Wolff über die Barrierefreiheit in der Stadt. Aber natürlich ginge es immer noch ein bisschen besser. Längst nicht alle Haltestellen seien barrierefrei. Großbaustellen seien grundsätzlich eine Herausforderung, weil sich dadurch vertraute Laufwege ändern.
Trotz Einschränkungen kaum möglich, einen Pflegegrad zu bekommen
Maria St. Mont und Christian Wolff sind beide als Vorsitzende des Mülheimer Blindenvereins engagiert. Er zählt aktuell 78 Mitglieder, darunter auch drei Kinder. Ein Thema, das beide neben der Barrierefreiheit im öffentlichen Raum sehr bewegt, ist die Anerkennung als Pflegegrad. Beide haben bei einer Begutachtung durch den medizinischen Dienst festgestellt, dass die Befragungsbögen nicht auf die Herausforderungen blinder Menschen abgestimmt sind und es demnach kaum möglich ist, finanzielle Unterstützung zu bekommen, um die anspruchsvolle Alltagsorganisation zu wuppen.
„Klar kann ich mich rasieren, aber ich kann nicht sehen, ob die Bartstoppeln weg sind“, sagt Christian Wolff und Maria St. Mont ergänzt: „Klar kann ich einen Putzlappen zur Hand nehmen. Ich weiß nur nicht, ob ich den Dreck nur hin- und herschiebe oder ob ich wirklich sauber mache.“ Christian Wolff ist bis vors Sozialgericht gegangen. Maria St. Mont steckt aktuell noch in einem Widerspruchsverfahren.