Mülheim. Menschen mit Seh- und Gehbehinderung haben es schwer im Nahverkehr: Haltestellen auch in Mülheim sollten längst modernisiert sein. Woran’s hakt.
Bislang hatte das Thema „Barrierefreiheit“ im Mülheimer Nahverkehr keinen besonderen Stellenwert. Die Stadt sei „bestrebt, die Barrierefreiheit unter Berücksichtigung der finanziellen Möglichkeiten herzustellen“, heißt es. Doch erst fehlten die Fördermittel, dann das Personal, um die Anforderung umzusetzen, welche laut Personenbeförderungsgesetz eigentlich schon 2022 für alle Haltestellen in Deutschland gelten sollte. Bis 2027 wolle man soweit sein – teilte die Stadt in einem Bericht vor zwei Jahren mit. Doch der neue Nahverkehrsplan könnte nun für Druck sorgen, die Maßnahmen zu beschleunigen. Ein Knackpunkt: der Hauptbahnhof.
Denn der komplette Neuentwurf für das Mülheimer Bus- und Bahnsystem basiert mehr als zuvor auf einem schnellen Umstieg zwischen den Linien, um die gewohnten Ziele erreichen zu können. Ohne dass zum Beispiel sichere und kurze Wege zwischen den Umstiegspunkten geschaffen werden, Aufzüge zum Erreichen der Bahnsteige vorhanden sind, die Bordsteinhöhen von Bushaltestellen auf unter fünf Zentimeter angepasst werden, dürfte der auf schnelle Anschlüsse zwischen Bus und Bahn umgestellte Nahverkehr für Menschen mit Gehbehinderungen, mit Rollator und Rollstuhl künftig schwieriger zu bewältigen sein.
Zahlenspiele: Wie weit ist Mülheims Nahverkehr von der Barrierefreiheit entfernt?
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Profitieren könnten von diesen Erleichterungen aber alle Kunden der Ruhrbahn. Wie weit aber ist Mülheim von den vorgeschriebenen 100 Prozent Barrierefreiheit entfernt? Nur gerade einmal 46 Prozent aller rund 608 Straßenbahn- und Bushaltestellen seien barrierefrei - blickt man auf Daten, die der Verkehrsverbund Rhein-Ruhr (VRR) jüngst veröffentlichte. Wer noch genauer hinschaut, muss erkennen, dass die gute Bilanz von rund 70 Prozent bei den Straßenbahnhaltestellen die eher durchwachsene bei den Bussen (38 Prozent) verwischt.
Doch wenn es um die Umsetzung der Barrierefreiheit geht, spielen nicht nur blanke Zahlen sondern bisweilen auch Rechenkünste eine wichtige Rolle: So kommt die Ruhrbahn bei den Bushaltestellen auf 54 Prozent Barrierefreiheit, weil sie für den neuen Nahverkehrsplan nur von 352 Bussteigen im Tagesnetz sowie in städtischer Baulast ausgeht - der VRR bezieht hingegen 474 (im Jahr 2022) ein.
Gibt es in Mülheim Ausnahmen von der Barrierefreiheit?
Zudem spekuliert die Ruhrbahn auf mögliche Ausnahmen aus wirtschaftlichen oder gar topografischen Gründen, um den kostspieligen Ausbau für jeweils rund 100.000 Euro zu vermeiden. In 46 Fällen werde laut Nahverkehrsplan eine Haltestelle von weniger als 75 Kunden am Tag genutzt, so etwa am Mintarder Wasserbahnhof, Müller Menden oder Ruhrstadion. In anderen Fällen werde das notwendige Gefälle von drei Prozent überschritten oder sei aufgrund der Vierspurigkeit nicht realisierbar – zum Beispiel an der Aktienstraße.
Das allerdings könnte die Mülheimer Politik anders sehen: Für die Grünen etwa ist ein Verzicht auf barrierefreien Ausbau scharf zu prüfen. Die Fahrgastzahlen allein seien nicht ausschlaggebend, wenn etwa Senioreneinrichtungen in der Nähe wären, sagt der verkehrspolitische Sprecher der Grünen, Axel Hercher. Und auch bei der Aktienstraße macht er ein Fragezeichen: Im Zuge der Lärmminderungsplanung solle die Aktienstraße von vier auf zwei Fahrspuren reduziert werden, wobei die wegfallenden Spuren für den Radverkehr nutzbar wären – und für mögliche barrierefreie Straßenbahnkaps.
Wo Mülheim vorne liegt
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Doch so oder so gerechnet: Mülheim liegt in jedem Fall nur etwas über dem Durchschnitt im VRR-Gebiet (36 Prozent). Es geht natürlich auch schlechter: Ruhrbahn-Partnerstadt Essen etwa hat dem Verkehrsverbund zufolge lediglich 33 Prozent der Haltestellen umgebaut, Duisburg 34 Prozent. Oberhausen dagegen liegt mit 93 Prozent und somit großem Abstand vor allen Städten des VRR-Gebietes.
Aus Sicht Timo Spors, Vorsitzender des Mobilitätsausschusses und Mitglied im Aufsichtsrat der Ruhrbahn, wird die Barrierefreiheit im neuen Verkehrsnetz eine zunehmend wichtige Rolle spielen, gerade weil es mehr Umstiege erfordert. Bei den Bushaltestellen sieht er zwar für die Umsetzung weniger Probleme – hier gehen Stadt und Ruhrbahn linienweise vor. Und auch bei den Bemühungen erkennt Spors gute Fortschritte, wenn es etwa um die Barrierefreiheit im Mülheimer Norden gehe.
Bei den Straßenbahnhaltestellen gehe es voran: 2024 will die Ruhrbahn die Punkte Hauptfriedhof, Tilsiter Straße, Weißenburger Straße, Kaiserplatz und Sandstraße umsetzen.
Barrierefreiheit am Hauptbahnhof wird zur Streitfrage
Doch gibt es eine Reihe von Knackpunkten: Größere Probleme sieht Spors bei der U-Bahn U18. An der Von-Bock-Straße und am Eichbaum müssen Aufzüge kostspielig nachgerüstet werden, um Barrieren abzubauen. Die Kosten allein für die Haltestelle Eichbaum werden auf 3,2 Millionen Euro geschätzt und sollen frühestens dann umgesetzt werden, wenn die Autobahn A40 auf sechs Spuren erweitert werde. An der Rosendeller Straße fehle hingegen schon der Platz für einen nachträglichen Aufzug.
Wenn es um Barrieren und Kosten geht, kann zudem der U- und Bus-Bahnhof am Hauptbahnhof zum Streitpunkt werden. Eigentlich hatte die Ruhrbahn hier die barrierefreie wie brandschutztechnische Umgestaltung mit einer aufwendigen Dachkonstruktion, erneuerten Aufzügen für die U-Bahn sowie die unterirdischen Busbahnhöfe geplant. 11,8 Millionen Euro – größtenteils gefördert mit Mitteln des Städtebaus und VRR – sollen dafür investiert werden.
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Und längst hätte man im ersten Quartal 2023 damit beginnen wollen. Grüne und CDU allerdings haben diesen Plan vorerst durchkreuzt. Denn aus Sicht der Koalition könne hier viel Aufwand gespart werden, wenn man zumindest den Busbahnhof aus dem derzeitigen „Loch“ nach oben holt. Nicht nur die künftigen Betriebskosten für Aufzüge könnte man sparen, indem man die Bushaltestellen an den Dieter-aus-dem-Siepen-Platz verlegte. Auch die Buswege in den Mülheimer Norden würden so beschleunigt, glaubt Spors.
Diese einfachste Möglichkeit wurde bereits vor Jahren von der Bezirksregierung Düsseldorf zwar vorgeschlagen, bisher aber von Stadt und Ruhrbahn nicht verfolgt. Schwarzgrün schrieb ihnen das vor einem Jahr noch einmal ausdrücklich ins Aufgabenheft zur Prüfung. Ein Ergebnis steht noch aus.
Das sagt die Stadt zum Thema „Barrierefreiheit“
Die Bahnhöfe Styrum und Hauptbahnhof gelten als barrierefrei. Höhenunterschiede zwischen Bahnsteig und Fahrzeugtüren bestehen systembedingt auf einzelnen Linien und müssen weiterhin mit Einstiegshilfen überwunden werden. Die Aufzüge in Styrum werden mit Unterstützung der Stadt betrieben. Mülheim-West wird zurzeit kaum von Fahrgästen genutzt und wurde von der DB noch nicht barrierefrei ausgebaut
Die Stadt geht von 381 Bussteigen im Tagnetz aus. Davon seien 192 barrierefrei ausgebaut – elf mehr als 2021. 16 weitere sind in Arbeit. An sechs Bussteigen müssen nur noch die taktilen Elemente nachgerüstet werden. Von den somit 98 verbleibenden nicht barrierefreien Bussteigen sind 13 für eine Förderung durch den VRR angemeldet.
52 Straßenbahnhaltestellen sind bisher barrierefrei. Es fehlen: Kaiserplatz, Hauptfriedhof, Weißenburger Straße, Sandstraße, Tilsiter Straße. Aktienstraße (104) sowie Duisburger Straße (901) hat die Stadt vorerst als Ausnahme definiert und zurückgestellt.