Mülheim. Als „Mülheims Amazone auf Gummi“ wurde Clärenore Stinnes berühmt. Vor fast 100 Jahren startete sie ihre wahnwitzige Pioniertat auf vier Reifen.
Als Clärenore Stinnes am 21. Januar 1901 in Mülheim als drittes Kind des Industriellen Hugo Stinnes geboren wird, haben Frauen in Deutschland noch kein Wahlrecht. Sie dürfen sich auch nicht politischen Vereinen anschließen oder ein Hochschulstudium absolvieren. Umso erstaunlicher, was Clärenore Stinnes für einen Weg hinter sich bringt.
Hugo Stinnes schätzt den Verstand seiner Tochter, die an der heutigen Luisenschule, trotz einer Fünf in Erdkunde, ihr Abitur besteht und als Vertraute ihres Vaters Einblick in die Geschäfte seines Konzerns hat. So schickt er sie als Inspekteurin auf In- und Auslandsreisen, um in seinen Firmen nach dem Rechten zu sehen.
Mutter möchte Tochter nicht in Unternehmensführung sehen: „Keine Arbeit für Frauen“
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Doch der Vater stirbt 1924 an den Folgen einer missglückten Gallenblasen-Operation. Und Mutter Cläre möchte ihre Tochter nicht in der Unternehmensführung sehen, weil sie glaubt, „dass das keine Arbeit für Frauen ist.“ Clärenores Versuch, sich mit einer Handelsgesellschaft selbstständig zu machen, misslingt. Und so startet sie auf einem anderen Gebiet durch.
Im Jahr 1919, in den Frauen erstmals wählen und gewählt werden dürfen und die Gleichberechtigung der Geschlechter erstmals zum Verfassungsrecht wird, macht Clärenore Stinnes ihren Führerschein. Sie wird ihn noch gut gebrauchen können. Denn 1925 geht die begeisterte Automobilistin unter die Rennfahrer und gewinnt bis 1927 17 Rennen. An ihrer ersten Rallye durch das Ruhrgebiet nimmt sie noch unter dem Pseudonym Fräulein Lehmann teil. Ihren vielleicht spektakulärsten Sieg als Rennfahrerin erringt die Tochter aus reichem Elternhaus als einzige weibliche Teilnehmerin in einem 53-köpfigen Starterfeld.
Stinnes schmiedet Plan zur Weltreise per Auto: Ihre Familie hält sie für verrückt
Der Rallye-Sieg in Russland ermutigt sie, ein noch größeres Rad zu drehen. Sie will in einem Auto die Welt umfahren. Ihre Familie hält sie für verrückt und verweigert ihre Unterstützung. Doch die furchtlose und lebensfrohe Clärenore Stinnes findet andere Mittel und Wege. Sie tritt mit ihrer Idee einer Weltfahrt an die Frankfurter Adler-Automobilwerke und deren Zulieferer Continental, Varta und Bosch heran. Die Unternehmen wittern zurecht den ganz großen PR-Erfolg und geben ihr das Geld.
Als Weggefährten gewinnt Stinnes den schwedischen Fotografen und Filmemacher Carl Axel Söderström. Er wird später über Clärenore Stinnes in sein Reisetagebuch schreiben: „Sie muss aus Stahl gemacht sein, so wie sie alles aushält, ohne zu klagen!“ Söderström dokumentiert ihre abenteuerliche Weltreise auf vier Rädern und bewährt sich auch als Mechaniker. Mit von der Partie sind auch ihre Terrier Billy und Lilli und ihr Hund Lord.
New York Times bezeichnet Mülheimerin als „Deutschlands komischstes Mädchen“
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Am 25. Mai 1927 startet Clärenore Stinnes in Frankfurt am Main zu einer Weltreise, die sie über 49.000 Kilometer in den folgenden zwei Jahren durch 23 Länder führen wird. Nur die Kontinente Afrika und Australien liegen nicht auf ihrer Route.
Als Erster trägt sich im Mai 1925 Reichspräsident Paul von Hindenburg in ihr Reisetagebuch ein. Auch den türkischen Staatspräsidenten Kemal Atatürk, US-Präsident Herbert Hoover, New Yorks Bürgermeister Jimmy Walker, Auto-König Henry Ford und der sowjetische Staats- und Parteichef Josef Stalin lassen sich mit der weltumfahrenden Frau, die die New York Times ihren Lesern als „Germanys strangest Girl“ (Deutschlands komischstes Mädchen) vorstellt, nur zu gerne ablichten.
Film über die außergewöhnliche Weltreise kam 1931 in die Kinos
Ihre automobile Weltreise im 45 PS starken Adler Standard 6, die im Juni 1929 erst in Berlin und später in Stockholm glamourös zu Ende geht, füllt bis in unsere Tage hinein Bücher, Berichte und Filme. Der von Carl Axel Söderström gedrehte Tour-Film „Mit dem Auto durch zwei Welten“ kommt 1931 in die Kinos.
Das setzen die beiden Weggefährten, die im Auto unter anderem über die Anden und den zugefrorenen Baikalsee und durch die Wüste Gobi gefahren sind, ihre weitere Lebensreise als Eheleute fort. Das Paar zieht drei eigene und mehrere Pflegekinder auf. Es lebt und arbeitet bis 1945 auf einem von Hugo Stinnes erworbenen Landgut im Süden Schwedens. Nachdem das Landgut von der schwedischen Regierung nach Kriegsende konfisziert wird, übersiedeln Stinnes und Söderström auf einen Bauernhof in der Nähe Stockholms. Dort stirbt Clärenore Stinnes am 7. September 1990, knapp einen Monat vor der Wiedervereinigung Deutschlands.
>> Mülheimer Zeitung feiert Weltumfahrerin Stinnes als „Amazone auf Gummi“
Beim Start ihrer Weltfahrt im Mai 1927 schreibt ein Journalist über Clärenore Stinnes: „Wer ihr in die Augen schaut, der sieht sofort, dass sie keinen Widerspruch duldet und erreicht, was sie sich vorgenommen hat!“ Die Mülheimer Zeitung feiert die Mülheimer Weltumfahrerin als „Amazone auf Gummi“.
Clärenore Stinnes sagt zu ihrem 80. Geburtstag am 21. Januar 1981 in ihrer Geburtsstadt Mülheim mit Blick auf das damalige atomare Wettrüsten der Nato und des Warschauer Paktes: „Ich würde noch einmal um die Welt fahren, wenn ich damit Amerikaner und Sowjets an einen Tisch bringen und zum Frieden bewegen könnte.“
50 Jahre zuvor hatte Clärenore im Film-Kommentar und im Buch zu „Im Auto durch zwei Welten“ unter anderem berichtet: „Die scharfen Gestein-Splitter zerschnitten unsere Reifen. Mit Dynamit mussten wir uns manchmal den Weg ins Freie sprengen, mit Flaschenzügen den Gipfel nehmen, bei der Überquerung der peruanischen Kordilleren vollführte Söderström einmal eine wahre Todesfahrt über einen steilen Abhang. Wir lernten kennen, dass es Augenblicke im menschlichen Leben gibt, in denen man sein Herz nicht mehr fühlt und nur noch wartet, ob es so oder so vorübergeht.“