Kamp-Lintfort. Sie hat als Kind den Holocaust knapp überlebt. Heute spricht die 88-Jährige in Schulen darüber, dass es wichtig ist, die Demokratie zu wahren.

„Es ist ein jüdisches Schicksal, ja, aber es ist vor allem ein menschliches“, sagt der Leiter des Georg-Forster-Gymnasiums, Alexander Winzen, den Schülern der Jahrgangsstufe 12. Sie sind gekommen, um Eva Weyl zuzuhören, einer Zeitzeugin, die als Kind dem Holocaust nur knapp entkommen ist. Sie ist zum achten Mal hier.

Das mit dem Menschlichen stimmt in der Tat. Vor den Schülerinnen und Schülern sitzt keine verbitterte, alte Frau, sondern eine in manchen Situationen fast jugendlich wirkende 88-Jährige, die mit Verve und - an den passenden Stellen - Humor ein so ernstes Thema angeht, und die zwischendurch auch gerne aufblitzen lässt, dass sie durchaus eine Ahnung hat, wie junge Leute so ticken. In einem Nebensatz erklärt sie allerdings, dass sie über aktuelle Politik nicht reden möchte. Ansonsten wäre es wohl auch verstörend, wenn die Gymnasiasten in der Fragerunde am Schluss nicht den wieder aufkeimenden Antisemitismus angesprochen haben.

Gleichwohl: Das nötige Rüstzeug gibt sie den jungen Menschen mit, um wachsam zu sein, dass sich Geschichte nicht wiederholt. „Wohin Hass, Neid, Respektlosigkeit und Intoleranz führen kann, darüber will ich euch erzählen“, erklärt Eva Weyl. Sind es nicht genau diese Begriffe, die auch in der gegenwärtigen Situation passen?

„Mobbing“ nennt die Niederländerin das, womit es angefangen hat: Die Schilder „Kauft nicht bei Juden“ an den Geschäften. Zu der Zeit hatte Eva Weyls Vater ein Kaufhaus in Kleve. „Das ist der Anfang des Bösen“, ist Eva Weyl sicher. Womöglich hätte es ja den Nazis gereicht, die deutschen Juden einfach enteignet und aus dem Land zu haben, vermutet die Zeitzeugin. Der Gipfel des Bösen sei ein paar Jahre später gekommen, als Hitler mit zusätzlichen 3 Millionen Juden umgehen musste, die in Polen lebten. „So viele kann man nicht wegmobben. Sie einzeln zu erschießen, ist teuer und mühsam“, erklärt Eva Weyl lakonisch. So seien die „Mordfabriken“, wie sie die Vernichtungslager nennt, entstanden.

„Warum müssen wir das wissen, werden sich manche von Euch fragen. Wir sind doch nicht schuld“, bezieht die Rednerin ihre jungen Zuhörer ein. Klare Sache: „Kein Mensch ist schuldig. Aber ihr habt Verantwortung.“ Sie sei Zeitzeugin, „aber uns gibt es bald nicht mehr, normal“. Jetzt seien die „Zweitzeugen“ dran. „Kämpft für Freiheit. Das ist das Wichtigste in meinem Vortrag. Ihr könnt jetzt gehen“, überrascht Eva Weyl die Schülerschaft scherzhaft mit einer wegwischenden Bewegung nach nur wenigen Minuten.

Kein Mensch ist schuldig. Aber ihr habt Verantwortung
Eva Weyl ist Holocaust-Überlebende und warnt junge Menschen vor einer Wiederholung der Geschichte

Das Thema Ausgrenzung auf dem Schulhof greift sie mit einem erschütternden Bericht auf. Das jüdische Mädchen Helga wird von ihren Mitschülerinnen gequält. „Sie sprangen auf Helga herum.“ Statt zu helfen, will die Lehrerin sehen, wer „auf der richtigen Seite steht“. „Jetzt ist sie tot“, erzählt eine Mitschülerin zu Hause. „Passt auf mit Befehlen, lasst euer Herz sprechen“, warnt die Holocaust-Überlebende.

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Das hat sie auch getan. Als 14-Jährige verliebte sie sich in einem Sommer in einen Jungen. Der Großvater wollte ihr den Umgang verbieten, da dessen Vater der schlimmste Nazi am Ort war. Nicht mit Eva: „Aber was kann denn der Fritz dafür?“, lautete ihre Gegenfrage. „Das hat fünf Jahre gehalten“, erzählt sie schmunzelnd. Später lernte sie auch Anke Winter kennen, eine ehemalige Grundschullehrerin aus Neukirchen-Vluyn und Enkelin „vom Täter“, des Lagerkommandanten Albert Konrad Gemmeker, den Eva Weyl im KZ Westerbroek erleben musste. Die beiden Frauen verbindet eine Freundschaft, lange waren sie gemeinsam in den Schulen unterwegs, um über den Holocaust zu berichten.

Eva Weyl mit Marc Glorius, Geschichtslehrer und Organisator des Vortags.
Eva Weyl mit Marc Glorius, Geschichtslehrer und Organisator des Vortags. © FUNKE Foto Services | Rainer Hoheisel

Drei Jahre lang standen Eva Weyl und ihre Eltern auf der Todesliste, auf der Liste derer, die nach Auschwitz ins Vernichtungslager sollten. Zufälle retteten ihnen das Leben. Über die Gräueltaten der Nazis hat die kleine Eva natürlich nichts gewusst. Auch als junge Frau sei ihr Interesse mäßig gewesen, räumt sie ein: „Ich wollte Tennis spielen und studieren.“ Ende 30 war sie, als sie mehr erfahren wollte, über 60, als sie mit ihrem zweiten Partner, einem Juden, viele der Vernichtungslager besucht habe. Sie selbst bezeichnet sich übrigens als unreligiös. Ihren Vortrag beendet sie mit einem Comic. Fragt ein Erwachsener: „Sind auf eurer Schule Muslime, Juden oder Christen?“ Antwortet ein Kind: „Auf unserer Schule sind nur Kinder.“