Essen. Das Bistum Essen will beim Umgang mit dem Missbrauchsskandal vieles richtig und besser machen. Aber geht das innerhalb der Kirche überhaupt?.

Warum bleiben sie in der Kirche, die Missbrauchsopfer, die zur Wort kommen, bei der Präsentation der Studie zum sexualisierten Missbrauch im Bistum Essen. So lautet die Frage aus dem Publikum. Die eine Antwort ist schnell gegeben: Stephan Bertram ist ausgetreten. Er sagt von sich, dass er mit dem Missbrauch in seiner Jugend niemals fertig wird. „Ich werde meine Geschichte mit ins Grab nehmen!“ Aber Johannes Norpoth ist geblieben, an prominenter Stelle sogar. Er ist Sprecher des Betroffenenbeirates bei der Deutschen Bischofskonferenz. „Wenn du das System zum Schwingen bringen willst, musst du selbst Teil des Systems sein.“

Was kann ein einzelner Bischof ändern, wenn Rom ihn stoppt?

Die Studie – immerhin mit Opfervertretern auf dem Podium – des Instituts für Praxisforschung und Projektberatung ist geeignet, das System Katholische Kirche zum Schwingen zu bringen. Und den Satz „Der Missbrauch ist systemisches Problem der gesamten katholischen Kirche“ hat man von einem amtierenden Bischof zu selten gehört. Franz-Josef Overbeck sagt ihn. Was kann er ändern, nachdem der Reformprozess des „Synodalen Wegs“ aufgrund des Edikts aus Rom zu einer Sackgasse geworden ist?

Und manches lädt katholische Hardliner gewiss zur Umdeutung ein. So etwa, wenn Studienautorin Helga Dill beschreibt: Gerade ein tolerantes Bistum wie das Essener, das bei Verstößen gegen den Zölibat nicht so genau hinschaute, genauso wie beim Verbot, Homosexuelle zu Priestern zu weihen, öffnet mit einem undifferenzierten Blick auf die Sexualität auch dem Missbrauch und der Gewalt Tür und Tor.

Ohnehin sei die Priesterausbildung bis Mitte der 90er Jahre geprägt gewesen von einer Sprachlosigkeit in Sachen Sex. Der Zölibat, die geforderte Enthaltsamkeit, wurde gesetzt, ohne dass über psychologische und soziale Voraussetzungen gesprochen wurde. „Priesterseminare sind eigenwillige Sozialisationsmilieus“, sagt sie. Heraus kommen Männer ohne Beziehungs- und Alltagserfahrung. Folge: Narzisstische Selbstaufwertung, Ausnutzung der Macht mit dramatischen Folgen für die Opfer, wenn diese Macht zu sexualisierten Missbrauch führte.

Der Missbrauchsskandal stirbt nicht mit den Tätern

Und dieser Missbrauchsskandal stirbt weder mit den Tätern noch mit dem Priestermangel. Die meisten Untaten wurden in den drei Jahrzehnten nach Gründung des Bistums 1958 begangen. Noch unter dem heutigen Münsteraner Bischof Felix Genn, 2003 bis 2008 in Essen, hatte man vor allem Täterschutz im Blick. Direktes Verschulden hat die Studie ihm nicht zur Last gelegt, die Letztverantwortung trug er schon.

Missbrauchsfolgen wirken jahrzehntelang nach. Nicht nur bei den direkten Opfern, sondern auch im Umfeld. In den Gemeinden, wo sich immer mehr Menschen fragen, was von den Geistlichen und den Gerüchten zu halten ist, die oft über Jahrzehnte herumwabern. Wo vehemente Verteidiger des „guten Pfarrers“ von damals nach dessen Versetzung (gewollt oder erzwungen, wer weiß das schon?) dessen Ruf verteidigen und Opfer und ihre Angehörigen erneut stigmatisieren, ausgrenzen, Gemeinden spalten.

Die Frage der nächsten Monate und Jahre wird sein, ob Bischof Franz-Josef Overbeck einer von denen sein kann und will, die das System Katholische Kirche in weitere Schwingungen bringen. Es reicht der Blick nach Köln, um festzustellen, dass nicht alle Bistümer mit Blick auf das Wohl der Opfer agieren: Dort wird deutlich mehr Geld und Energie darauf verwendet, den Ruf des Bischofs zu schützen. Dort schwingt das System nicht mehr, dort ist es versteift, bekommt Risse.

Vom Papst, da macht sich Norpoth keine Illusionen, ist kein Heil zu erwarten: Er sprach von „Gerontoklerikalismus“ und von Wortmeldungen und Briefen aus Rom an die deutsche Kirche, die vor Ignoranz und Arroganz trieften. Man muss schon sehr stark im Glauben sein, auch im Glauben an die eigene Stärke, um ausgerechnet vom kleinen Ruhrbistum die große Heilung für die katholische Kirche zu erwarten.