Kamp-Lintfort. Sie wird nicht müde, gegen das Vergessen zu kämpfen: Holocaust-Zeitzeugin Eva Weyl erzählt Schülern in Kamp-Lintfort vom Leben und Überleben.

„Ich werde nun eine Geschichte erzählen. Denn vor über 80 Jahren wollte man mich ermorden“, sagt Eva Weyl (87), Zeitzeugin des Holocaust. Selten haben Schüler einen Vortrag so gebannt verfolgt. Der Jahrgang 12 des Georg-Forster-Gymnasiums hört den Bericht per Video-Konferenz auf dem Großbildschirm. Kein Mucks ist zu hören, als die alte Dame von der Kindheit im Nationalsozialismus, von der Verfolgung der Juden und der Zeit im Lager im holländischen Westerbork berichtet. Trotz einer technischen Panne bekommen die jungen Leute ein eindrucksvolles Bild von den Gräueltaten der Nazis.

Die Eltern Eva Weyls besaßen ein großes Kaufhaus in Kleve. „Hitler wollte die Juden anfangs nur vergraulen und weghaben; er wollte ein so genanntes arisches Deutschland“, schildert die 87-Jährige. Zunächst habe man sich mit Vermögen freikaufen und ausreisen können. Dazu wurden Juden gezielt ausgegrenzt. Den Umgang mit jüdischen Menschen im Alltag zeigt eindrucksvoll ein altes Foto, das Weyl an die Tafelwand projiziert: Zwei jüdische Jungen stehen mit tief gesenkten Köpfen neben der Schultafel. Ein anderer Schüler schreibt, was der Lehrer vorgibt: „Die Juden sind unser größter Feind“. „Wie furchtbar! Man hat diese Kinder vor allen anderen verspottet und blamiert.“ Die Zeitzeugin mahnt eindringlich: „Also denkt erst einmal nach, wenn ein Mitschüler gemobbt werden soll.“

Eva Weyl, oben rechts im Digitalboard, erzählt von ihrem Leben und beantwortet die Fragen der Schülerinnen und Schüler.
Eva Weyl, oben rechts im Digitalboard, erzählt von ihrem Leben und beantwortet die Fragen der Schülerinnen und Schüler. © FUNKE Foto Services | Volker Herold

Evas Eltern gingen ins Exil nach Holland. Die Familie kam dort nach dem Einmarsch Hitlers schließlich in das Durchgangslager Westerbork. „Stets kamen neue Deportierte an. Daher mussten auch stets Lagerinsassen in ein Vernichtungslager wie Auschwitz weiter transportiert werden.“ Ihr selbst und allen anderen Kindern hätten die Erwachsenen nie ein Wort von der Gefahr gesagt. „Um uns zu schützen“, weiß Weyl heute.

Demokratie wahren

Mehrfach habe die Familie Glück gehabt. „Ein Freund unserer Familie hat einmal in der Verwaltung unsere Karteikarten verschwinden lassen. So kamen wir nicht auf die Transport-Liste.“ Ein andermal habe man schon auf den Abtransport gewartet, als das Lager bombardiert wurde und die Aktion abgeblasen wurde. „Uns blieb der Zug des Elends, die lange Fahrt im Viehwaggon, erspart.“

Das Leben im Lager unter Kommandant Albert Konrad Gemmeker sei eine Farce gewesen. „Es gab eine Schule und Zeugnisse, ein Krankenhaus, Kabarett und ein Orchester. Unglaublich, denn wir alle sollten ja vernichtet werden…“. Als die Kanadier am 12. April 1945 das Lager befreiten, sei es wie ein Wunder gewesen. Später habe sie einen Nichtjuden geheiratet, dies sei keine Frage und kein Thema für sie gewesen, sagt Eva Weyl, heute zweifache Mutter und fünffache Großmutter. Nein, die heute zuhörenden jungen Leute, unterstreicht sie, hätten keinerlei Schuld an dem was geschehen sei. Sie appelliert: „Aber wir alle müssen Demokratie und Menschenrechte wahren.“

Brücken zu bauen und an eine schreckliche Vergangenheit zu erinnern, sei ihr wichtig, erklärt Eva Weyl, die heute in der Schweiz lebt. Seit 2016 pflegt sie Kontakt zum Georg-Forster-Gymnasium mit dem Geschichtspädagogen Marc Glorius. Fünfmal war sie zu Gast in der Schule, die letzten beiden Male sprach sie per Video-Konferenz. Einer der Schüler fragt sie nach dem Vortrag, ob sie noch Angst vor einer Wiederholung der Geschichte habe: „Lange Jahrzehnte hatte ich das Vertrauen, dass so etwas nie wieder geschehen würde. Aber das mit der Ukraine jetzt hätte ich nie vermutet. Das könnte schlimm enden. Davor habe ich Angst.“

Ob sie ein schlechtes Gewissen habe, weil sie überlebt habe und viele andere gestorben seien: „Als ich Jahrzehnte später einmal in Auschwitz war, dachte ich, ich hätte kein Recht zu leben. Aber jetzt weiß ich, dass ich lebe, um noch etwas Wichtiges zu tun. Das gibt mir ein gutes Gefühl“, sagt Eva Weyl.