Kamp-Lintfort. Seit Mai wohnen Liudmyla Zaits und Tochter Sofiia aus der Ukraine bei Familie Pietz in Kamp-Lintfort. So funktioniert das in der etwas anderen WG.
In diesem Jahr ist alles anders. Gut möglich, dass bei Familie Pietz heute am Heiligabend zum ersten Mal ein großer, duftender Topf Borschtsch als Festessen auf dem Tisch steht: „Liudmyla ist Köchin, sie kocht wunderbaren Borschtsch. Der lockt hier immer alle zum Essen, weil er so gut schmeckt“, sagt Dietmar Pietz. Vor sieben Monaten sind er und seine Frau Christa in ihrem Haus zusammengerückt und leben seitdem mit der 43-jährigen Ukrainerin und deren neunjähriger Tochter Sofiia unter einem Dach: „Das ist eigentlich genauso, wie man sich das im Alter wünscht: Es ist immer was los“, sagt der 68-jährige ehemalige Polizist und lächelt.
Am 24. Dezember ist es zehn Monate her, dass Putins Armee die Ukraine überfiel. Zehn Tage lebten Liudmyla und Sofiia in Kiew unter Dauerbeschuss. Dann entschloss sich die 43-Jährige zur Flucht. Gemeinsam mit der Mutter ihres Lebensgefährten und dessen zwei leiblichen Kindern flüchtete sie über Warschau und Berlin nach Frankfurt am Main. Dort kamen sie zunächst privat unter. Als der Hausbesitzer im Mai Eigenbedarf anmeldete, mussten sie und die anderen ukrainischen Flüchtlinge ausziehen. Über eine Verwandte kam die Gruppe nach Kamp-Lintfort, wo Liudmyla und Sofiia bei Familie Pietz ein neues Zuhause fanden.
Anfangs hatte Sofiia viel Angst
Sofiia reitet auf einem Einhorn durch das weihnachtlich geschmückte Wohnzimmer, dann kuschelt sie sich in die Arme von Christa. Zu Weihnachten hat sie sich einen Hund gewünscht, „einen lebendigen“, präzisiert Dietmar. „Aber das möchte auch Liudmyla nicht. Bei uns werden an diesem Weihnachtsfest alle gleich beschenkt, Sofiia bekommt das, was auch unsere Enkelkinder bekommen. Man wächst zusammen, das ist wie Familie.“
Anfangs habe Sofiia viel Angst gehabt, wollte nicht alleine im Raum bleiben. Das Sirenengeheul am Samstag oder Flugzeuggeräusche am Himmel seien schlimm für sie gewesen, erzählt Christa. Seit dem Sommer besucht die Neunjährige die Ernst-Reuter-Schule, geht zum Hip-Hop-Kurs in das Tanzzentrum Niederrhein und macht Sport im Lintforter Turnverein. „Es war uns wichtig, dass sie ihre Hobbys wieder aufnehmen kann.“
Liudmyla besucht einen Deutsch-Intensivkurs. Sprechen und Verstehen machen große Fortschritte. Wenn es kompliziert wird, hilft der Google-Übersetzer. Eines ist ihr besonders wichtig, sie zeigt auf ihr Smartphone: „Wir sind Deutschland sehr dankbar, dass es uns beherbergt. Wir sind auch der gesamten Familie Pietz, die uns aufgenommen und unterstützt hat, sehr dankbar für ihren familiären Trost und ihre Wärme.“
Eine besonders schwere Zeit
Im Sommer ist Liudmyla kurz in die Ukraine zurückgekehrt – zur Beerdigung ihres Lebensgefährten, der an der Front gefallen ist. „Es ist eine schwierige Zeit für mich“, sagt Liudmyla. Sie hat noch zwei weitere Kinder in der Ukraine: eine Tochter in Kiew und einen Sohn, der derzeit an der Front in Donezk eingesetzt ist. „Ich bewege mich derzeit zwischen zwei Ländern, das ist sehr schmerzhaft.“
Die Entscheidung nicht bereut
Ziemlich bald nach Ausbruch des Krieges hatten Christa und Dietmar sich die Frage gestellt, ob sie Geflüchtete aus der Ukraine aufnehmen wollen. Als die Frage im Mai konkret wurde, ging alles ziemlich schnell. Bereut haben die beiden ihre Entscheidung nicht, auch wenn sich ihr Alltag seitdem völlig verändert hat. Christa, die als selbstständige Fitnesstrainerin arbeitet, ist viel unterwegs. Dietmar versucht zu helfen, den nötigen Behördenkram zu regeln. Was im Fall von Liudmyla nicht einfach ist. Weil die beiden ursprünglich dem Land Hessen zugewiesen wurden, brauchen sie einen genehmigten „Antrag auf Umverteilung“. Den zu bekommen, gestalte sich kompliziert, sagt Dietmar – trotz großer Hilfe seitens der Stadt Kamp-Lintfort und des Kreis Weseler Ausländeramtes.
In vieles sind die Vier gemeinsam reingewachsen. So bereitet Liudmyla zum Beispiel immer samstags das gemeinsame Essen vor, Christa stellt sich sonntags an den Herd. „Das Wichtigste in unserer WG ist die Harmonie und der Respekt“, sagt Christa. „Regeln mussten wir hier nicht aufstellen, das hat sich von Anfang an so gefunden“, ergänzt Dietmar.„Ich empfinde unser Zusammenleben als Bereicherung. Wie gut es uns geht, wird uns doch jeden Tag vor Augen geführt.“ Auch deshalb steht für beide fest, dass Liudmyla und Sofiia bleiben können, bis sie selbst entscheiden, zu gehen.
Am 6. Januar ist Heiligabend
In der Ukraine wird Weihnachten nach dem julianischen Kalender gefeiert. Der 24. und 25. Dezember fallen demnach derzeit auf den 6. und 7. Januar unseres Kalenders. Das Weihnachtsfest habe man früher in der Ukraine immer mit der Familie gefeiert, erzählt Liudmyla: „Am 6. Januar ist Heiligabend, über Weihnachten können die Kinder mit Liedern und Gedichten zu ihren Nachbarn gehen.“ Für Familie Pietz steht lange fest: „Wir feiern dieses Jahr zweimal Weihnachten.“