Kamp-Lintfort. Weil „Aufgelesen“ wegen Corona nicht stattfinden konnte, gibt es die Buchtipps hier. Ulla Schümann widerspricht einem sehr bekannten Kritiker.
Abgesagt wegen Corona – Diese Schlagzeile schwebte in den letzten Wochen über fast allen kulturellen Veranstaltungen in der Region. Auch der Literarische Salon des Vereins LesArt hat seine Veranstaltung „Aufgelesen“ kurzerhand und schweren Herzens gecancelt. Damit unsere Leserinnen und Leser gerade in dunklen Corona-Zeiten trotzdem in den Genuss der stets mit viel Liebe und Sachkenntnis präsentierten Buchtipps kommen, werden wir in zwei Teilen Kurzrezensionen der Bücher veröffentlichen, die die Mitglieder des Literarischen Salons vorbereitet hatten. Auch, wenn diese gedruckten Rezensionen nicht vergleichbar mit der Live-Veranstaltung und ihren kurzen Lesungen und anschließenden Gesprächen sind: Es lohnt sich!
Charlotte Roth, Roman Hocke: Die ganze Welt ist eine große Geschichte und wir spielen darin mit : Michael Ende - Roman eines Lebens. Wie kann man dieses farbenprächtige, 430-Seiten dicke Buch über Michael Ende in wenigen Sätzen beschreiben? Ja, es ist ein Roman, aber einer, der aus unzähligen wahren
Begebenheiten aus dem Leben Michael Endes besteht. Natürlich begegneten mir beim Lesen viele alte (Buch-)freunde aus Kindheit- und Jugendtagen wieder: „Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer“, „Momo“ und „die unendliche Geschichte“ erlebte ich aber jetzt ganz neu vor den Lebensereignissen ihres Schöpfers und der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts. Verspielt und detailreich verbindet Charlotte Roth Zeitdokumente mit Erlebnissen, die Roman Hocke, Freund und ehemaliger Lektor Michael Endes, aus erster Hand beisteuert.
„In die Welt einer Geschichte hineinge- zogen werden – wollten wir das nicht alle? Wir waren noch vermessener, wir haben uns in die Welt des Autors hineinziehen lassen. Und schrieben eine Geschichte dazu“. So beschreiben die Autoren selbst ihren Roman.
Und tatsächlich gelangt man als Leser an die Seite des mehrfach mit dem Jugendliteraturpreis ausgezeichneten Schriftsteller, erlebt mit ihm die dunklen Zeiten der 1940 und -50er Jahre, freut sich am ersten Durchbruch mit den Kinderbüchern von „Jim Knopf“, taumelt mit ihm durch die weltweite Begeisterung für „Momo“, und ist verzweifelt, als er am Versuch, aus der profitorientierten Literaturproduktion auszusteigen, zerbricht und stirbt. Fesselnd und toll geschrieben.
Eva-Maria Altemöller: Herzblut: Eine Liebeserklärung an den kleinen Laden. Die Autorin öffnet mit diesem Buch die Türen zu verschiedenen, mit viel Herzblut gestalteten kleinen Läden, die uns beim Betreten direkt in eine wunderbare Welt eintauchen lassen, uns zum Verweilen und Träumen einladen. Mit
der „Liebeserklärung an den kleinen Laden“ verfolgt Eva-Maria Altemöller das Ziel, den Geschmack des realen Erlebens zu fördern, der verloren zu gehen droht, wenn wir vorwiegend vom Sofa aus unser Leben online gestalten und dadurch letztendlich von anderen beeinflussen lassen.
Sie beschreibt Läden und deren Eigentümerinnen und Eigentümer, die mit Herzblut ihr jeweiliges Projekt aufgebaut haben und begleiten. Sie haben die Herausforderung, speziell zu sein, angenommen und verzichten auf den mittlerweile üblichen Schnickschnack der Vielfalt. In Buchläden werden Bücher verkauft – keine Tassen, Spielzeuge usw. Der Lohn dafür ist nicht der überragende Verdienst. Der Lohn besteht darin, ehrliche Arbeit anderen zur Verfügung zu stellen und zu spüren, mit welch großer Sehnsucht die Kunden den Laden betreten, um ihn später zufrieden wieder zu verlassen. Dieses Ziel zu erreichen, erfüllt die Ladeninhaberinnen und Ladeninhaber selbst mit sehr großer Zufriedenheit.
Da schließt sich der Kreis. Wer wagt, gewinnt Lebensfreude. Für mich war das Lesen dieses liebevoll gestalteten kleinen Büchleins ein Genuss.
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Tamara Bach: Sankt Irgendwas. „Hast du was gehört von der b ?“-- „Wieso gehört ? Was ist denn passiert, ist was passiert?“ – „Auf der Klassenfahrt.“ – „Ich hab gehört, dass die jetzt alle verwarnt sind.“ – „Wie, verwarnt ?“ – „Eine ganze Klasse ?“ – „Ja. Heute abend ist Klassenkonferenz.“
So beginnt die Geschichte der Abschlussfahrt der 10 b, nach „Sankt Irgendwas“. Was ist passiert auf dieser Fahrt ? Keiner weiß etwas Genaues (nicht einmal genau, wohin die Fahrt ging), die Schulhofgerüchte überschlagen sich. Tamara Bach trifft punktgenau den Ton der Sechzehnjährigen und entwickelt in Tagebuchform die Geschichte einer Klassenfahrt, auf der Einiges schiefläuft und die Schüler zusammenschweißt.
Was mich berührt hat an diesem Buch, ist, dass es trotz der Aktualität (es geht einmal sehr dramatisch um ein Handy) eine uralte, ewig neue Geschichte erzählt, von Freundschaft, Solidarität und Erwachsenwerden, und das in einer knappen, lakonischen Sprache ohne Pathos. Ein schönes, schmales Buch, auch zu empfehlen für Jugendliche, die keinen dicken Wälzer anfassen würden.
Robert Seethaler „Der letzte Satz“.
„Der letzte Satz“ ist Robert Seethalers ergreifendes Porträt eines Künstlers am Ende seines Weges. Am Deck der „Amerika“ von New York zurück nach Europa sitzt Gustav Mahler. Er ist berühmt, der größte Musiker, Komponist seiner Zeit. Er ist todkrank, sieht aufs Meer und überdenkt sein Leben. Er liebt das
Leben, ist aber unfähig es so zu nehmen wie es ist. Während ihn der Schiffsjunge sanft aber resolut umsorgt, denkt er zurück an die letzten Jahre, die Sommer in den Bergen, an seine komplizierte Beziehung zur Wiener Gesellschaft, den Tod seiner Tochter Maria. An Anna, die andere Tochter, die unten gerade beim Frühstück mit Ihrer Mutter Alma sitzt.
Alma, seine Muse, seine Ehefrau und seine große Liebe. Die ihn verrückt macht, die er aber längst verloren hat. Alma, die schönste Frau Wiens, die jeden Mann hätte haben können, aber ihn nahm und nicht glücklich wurde. Mahler arbeitete fast ununterbrochen. Da blieb keine Zeit für die Familie. Später heiratete sie Walter Gropius, den „Baumeister“, wie Mahler in abwertend nannte.
Ein dünnes Buch, 124 Seiten stark, aber mit einer großen Aussagekraft. Mit einer wunderbaren Sprache, die mich schon immer für Seethaler einnahm. Wie er den Schiffsjungen beschreibt, ist großartig. Alleine durch die Körperhaltung, die er beschreibt, versteht man ihn. Es ist aber auch ein trauriges Buch, Mahler war sehr, sehr einsam. Im Rückblick erst weiß man über sein Leben Bescheid, ob es glücklich war, begreift erst jetzt vielleicht Einiges. Dennis Scheck, Literaturkritiker, hat dieses Buch verrissen, als Schmonzette kritisiert. Verzeihen Sie, Herr Scheck, aber da muss ich vehement widersprechen. Das hat dieser Roman von Seethaler nicht verdient. Ich habe dieses Buch sehr gerne gelesen.