Kreis Wesel. Die Kinder- und Jugendkriminalität im Kreis Wesel ist gestiegen. Ein Programm hilft jungen Tätern beim Ausstieg, aber nicht jeder schafft es auch.

Es waren nachdenkliche Worte, die Landrat Ingo Brohl und Polizeidirektor Rüdiger Kunst wählten, als sie im Februar die aktuelle Kriminalitätsstatistik für den Kreis Wesel vorstellten. Ihr Blick richtete sich vor allem auf die stark gestiegenen Zahlen von Kinder- und Jugendkriminalität. Bei 898 bekannt gewordenen Gewaltdelikten im Jahr 2022 lag die Zahl der tatverdächtigen Kinder und Jugendlichen bei 245 und damit so hoch wie in den vergangenen sechs Jahren nicht. Von 647 schweren oder gefährlichen Körperverletzungen sind laut Statistik 180 von Kindern und Jugendlichen begangen worden.

Der Anstieg sei besorgniserregend, sagte Rüdiger Kunst, und Ingo Brohl sieht die Gesellschaft gar auf ein Problem zusteuern, wenn man nicht geeignete Maßnahmen entwickelt, um gefährdete Kinder und Jugendliche von der schiefen Bahn zu holen. Eine Maßnahme gibt es bereits seit zwölf Jahren: Die kriminalpräventive Initiative „Kurve kriegen“ des NRW-Innenministeriums hilft Kindern und Jugendlichen dabei, Wege aus der Kriminalität zu finden. Von 47 Polizeibehörden nehmen mehr als 40 teil. Auch die Kreispolizeibehörde Wesel.

„Kurve kriegen“: So wird jungen Mehrfachtätern im Kreis Wesel geholfen

Drei pädagogische Fachkräfte und zwei Polizeibeamte kümmern sich hier um Kinder und Jugendliche im Alter zwischen acht und 18 Jahren, um eine Verfestigung krimineller Verhaltensmuster zu verhindern. 106 junge Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben das Programm bislang durchlaufen. Derzeit kümmert sich das Team um 13 Kinder und Jugendliche im gesamten Kreisgebiet.

Sozialpädagoge Bernd Klinge, links, und Kriminalhauptkommissar Frank sprechen über ihre Arbeit und wie sie Kindern und Jugendlichen helfen, nicht in die Kriminalität abzurutschen.
Sozialpädagoge Bernd Klinge, links, und Kriminalhauptkommissar Frank sprechen über ihre Arbeit und wie sie Kindern und Jugendlichen helfen, nicht in die Kriminalität abzurutschen. © FUNKE Foto Services | Markus Weißenfels

Die Chancen, dass sie die sprichwörtliche Kurve kriegen, stehen nicht schlecht. Auf 80 Prozent beziffert Kriminalhauptkommissar Frank Postfeld die Quote derer, die durchhalten. 40 Prozent davon würden danach nicht mehr straffällig, bei 60 Prozent reduzierten sich die Strafen erheblich, so Postfeld. Zumal die Kriminalität bei den meisten Kindern und Jugendlichen eher „ein episodenhaftes Verhalten“ sei, bei dem es vor allem um das Austesten von Grenzen gehe. „Aber bei sechs bis zehn Prozent kann sich das Verhalten verfestigen“, so der Kriminalhauptkommissar weiter. „Aus ihnen können sich unter ungünstigen Rahmenbedingungen und ohne wirkungsvolle Intervention sogenannte Intensivtäter entwickeln.“

Diese Intensivtäter sammeln in jungen Jahren Einträge im Strafregister wie Gleichaltrige Pokémon-Karten. Sie sind für bis zu 50 Prozent aller bekannten Straftaten in der jeweiligen Altersgruppe verantwortlich und lassen bis zu ihrem 25. Lebensjahr rund 100 Opfer und einen Schaden von rund 1,5 Millionen Euro zurück.

Um solch eine Karriere zu verhindern, setzt das Kreis Weseler Team möglichst früh an. Frank Postfeld und sein Kollege Jürgen Boland filtern in einem sog. Screening tatverdächtige Kinder und Jugendliche heraus, die mindestens drei Eigentumsdelikte oder eine Gewalttat begangen haben sollen und bei denen durch belastende Lebensumstände ein dauerhaftes Abgleiten in die Kriminalität droht.

Hat er ein Kind oder einen Jugendlichen ausgemacht, stellt Frank Postfeld den Erstkontakt her. Er besucht den oder die Tatverdächtige im eigenen Umfeld, spricht mit der Familie und sieht sich die Lebensumstände an. Wie ist die Stimmung untereinander, wie belastet ist die Beziehung zwischen Eltern und Kindern? Man bekomme schon „feine Antennen“ dafür, was in den jeweiligen Familien nicht stimme, sagt Postfeld.

Vielfältige Probleme begleiten die Kinder und Jugendlichen, die gewalttätig werden

Dabei ist Kinder- und Jugendkriminalität kein ausschließliches Produkt prekärer Lebensumstände. Das Problem ziehe sich durch sämtliche Gesellschaftsschichten, sagen Frank Postfeld und Sozialpädagoge Bernd Klinge vom Caritasverband Wesel-Dinslaken, der die Betreuung der jungen Teilnehmenden übernimmt, sobald der Erstkontakt hergestellt wurde und die Familien eingewilligt haben.

Scheidung, Schulprobleme, Vernachlässigung, eigene Gewalterfahrungen in der Familie, Suchtproblematiken, Überforderung, nicht erkannte Lernschwächen oder falsche Freunde – die Probleme, auf die die pädagogischen Fachkräfte treffen, sind höchst unterschiedlich. Eine Blaupause, die man auf jede Familie, jedes Kind oder Jugendlichen legen könnte, gibt es nicht. Bernd Klinge und seine Kolleginnen und Kollegen versuchen zunächst, eine Beziehung zu den Kindern oder Jugendlichen und deren Eltern aufzubauen. Wichtig sei vor allem, „dass sie das Angebot als Hilfe und nicht als Strafe begreifen“, sagt Klinge.

Die Pädagoginnen und Pädagogen sprechen mit Schulen, Lehrern, Schulsozialarbeitern und mit den Jugendämtern, um ein passgenaues Programm zu entwickeln. Sie organisieren Nachhilfe oder Therapien, vermitteln Sportkurse oder auch Coolness-Trainings, um den Kindern und Jugendlichen Konfliktlösungen ohne Gewalt beizubringen. Einige, sagen Bernd Klinge und Frank Postfeld, hätten eine geringe Frustrationstoleranz und eine mangelnde Impulskontrolle.

Durchschnittlich zwei bis drei Jahre begleitet „Kurve kriegen“ die jungen Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Viele Gespräche müssen Bernd Klinge und seine Kollegen in dieser Zeit führen. Dabei seien vor allem die Eltern gefordert. Man müsse immer darauf gefasst sein, dass auf etwas Positives wieder etwas Negatives folgen könne, so der Sozialpädagoge. „Zwei Schritte vor, einer zurück, dann wieder zwei vor und drei zurück.“ Wichtig sei am Ende aber nur eines: die Kurve zu kriegen.

>>> Kontakt<<<
Das Team „Kurve kriegen“ der Kreispolizei Wesel ist unter 0281-107-4420 erreichbar.

Der Anstieg der Kinder- und Jugendkriminalität sei „schon deutlich“ gewesen, sagt Frank Postfeld. Die zunehmende Verrohung der Gesellschaft sei aber nicht neu, ergänzt Bernd Klinge. Neue Ansätze ergäben sich daraus nicht. „Die Probleme selbst ändern sich nicht“. Allerdings: Seit der Tat in Freudenberg, wo zwei Zwölf- und 13-Jährige Mädchen eine Zwölfjährige erstochen haben sollen, achte er auf veränderte Verhaltensweisen.