Kreis Wesel. Wie viele Menschen stehen im Kreis Wesel wirklich hinter den Corona-Protesten? Vieles deutet auf eine intensive Vernetzung hin. Eine Analyse.

In dieser Woche werden sie wohl wieder „spazieren“ gehen: Offensichtliche Impfgegner und Kritiker der aktuellen Corona-Politik. Am Montag in Dinslaken, Moers, Rheinberg, Schermbeck, Xanten und Alpen, am Dienstag in Wesel und Kamp-Lintfort, am Mittwoch in Hamminkeln. Mal sind es über 300, mal weniger als 50. Doch wie groß ist die Gruppe der Corona-Protestler im Kreis Wesel wirklich? Vieles deutet daraufhin, dass sich der Kern der Szene sehr gut untereinander vernetzt hat und ein Teil der so genannten „Spaziergänger“ bei mehreren Veranstaltungen dabei ist.

„Diesen Eindruck muss man gewinnen“, sagt René Schneider, Landtagsabgeordneter und Chef der SPD im Kreis. „Warum finden die Versammlungen sonst generalstabsmäßig organisiert an mehreren Tagen in der Woche statt?“

Zentrales Werkzeug der Proteste ist das umstrittene soziale Netzwerk Telegram: Dort tauschen sich die Impfgegner und Impfgegnerinnen nicht nur über Themen aus, die häufig aus der Ecke von Verschwörungstheoretikern stammen. In den lokalen Gruppen geht es auch um die Verbreitung von Terminen, immer wieder wird dort auf Veranstaltungen hingewiesen oder zum Besuch aufgerufen – über Stadt- und Kreisgrenzen hinaus. Schneider sieht Strukturen hinter dem Protest, die es vorher gab und auf die jetzt aufgebaut wird. „Die Hinweise sind deutlich“, sagt der SPD-Politiker. Es seien Leute unter den „Spaziergängern“, die genau wüssten, wie man sich organisiert und vernetzt.

Corona-Leugner im Kreis Wesel: Telegram ist ihr wichtigster Kanal

Auch das nordrhein-westfälische Innenministerium sieht in Telegram den wichtigsten Kanal der Corona-Leugner-Szene für die Planung von Veranstaltungen. Es rechnet in den kommenden Wochen mit einem anhaltend hohen Zulauf bei den Protesten, so ein Sprecher auf Anfrage. Vor dem Hintergrund weiterer Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie, könne sowohl „die Dynamik und Mobilisierung, als auch die Emotionalisierung stark zunehmen“, heißt es vom Ministerium: In Teilen des „Impfgegner-Milieus“ sei ein „verbalaggressives“ Verhalten erkennbar.

Bisher ist es im Kreis friedlich geblieben. Doch welches Aggressionspotenzial bei einzelnen Akteuren vorhanden scheint, musste der Politiker Sascha H. Wagner Ende der vergangenen Woche am eigenen Leib erfahren. Der Fraktionsvorsitzende der Linken im Kreistag wurde nach einer Stellungnahme in einer Telegram-Gruppe offen bedroht. Einen Tag später beobachtete Wagner verdächtige Personen vor seinem Haus. In dieser Angelegenheit ermittelt nun der Staatsschutz.

Auch in Kamp-Lintfort treffen sich die Impfgegner zu Versammlungen.
Auch in Kamp-Lintfort treffen sich die Impfgegner zu Versammlungen. © FUNKE Foto Services | Erwin Pottgiesser

„Meine große Befürchtung ist, dass die Stimmung kippen könnte. Wir können nur hoffen, dass die Proteste friedlich bleiben“ sagt Wagner. Laut dem Linken-Politiker gebe es Hinweise darauf, dass auch rechtsextreme Gruppierungen bei den Veranstaltungen im Kreis Wesel mitmischen. So verbreite etwa die vom Verfassungsschutz beobachtete Kleinstpartei „Der dritte Weg“ den Termin der montäglichen Protestveranstaltung in Dinslaken. Ein entsprechender Screenshot liegt der Redaktion vor.

Die meisten Veranstaltungen im Kreis Wesel sind nicht angemeldet

Weil der Staatsschutz in solchen Angelegenheiten involviert ist, liegt die Zuständigkeit für den Kreis bei der Polizei in Duisburg. Pressesprecher Stefan Hausch hat bisher keine Unterwanderung durch Rechtsextreme festgestellt: „Die Gruppen setzen sich überwiegend aus der bürgerlichen Mitte zusammen.“ Für problematisch hält es Hausch, dass ein Großteil der Veranstaltungen nicht angemeldet wird: „Das ist eine ganz bewusste Provokation des Staates, mit der die Polizei an ihre Grenzen gebracht werden soll.“

Den letzten Punkt sieht Schneider genauso. Demonstrieren sei ein gutes Recht, doch die Protestler würden der „Gesellschaft einen Frondienst“ leisten. Weil sie die Veranstaltungen nicht anmelden, belasten sie die Polizei, weil sie die Abstands- und Hygieneregeln nicht einhalten, das medizinische Personal, so der Landtagsabgeordnete. Das größte Signal für einen Gegenprotest ist für ihn die Auffrischungsimpfung: „Sich Boostern zu lassen, ist ein Statement.“ Sieht man es so, stehen den wenigen hundert „Spaziergängern“ mehr als 175 000 Menschen im Kreis gegenüber.