An Rhein und Ruhr. Nach dem unbemerkten Tod von Mutter und Sohn in Kranenburg spricht der VdK von einen veränderten Gesellschaft. Immer mehr Menschen lebten einsam.
Die Nachbarin war „total geplättet.“ Dass so etwas nahezu nebenan passiert, „ist doch unglaublich“, sagt sie, nachdem ein 52 Jahre alter Mann und seine 91-jährige Mutter tot in ihrer Wohnung im historischen Ortskern von Kranenburg am Niederrhein gefunden wurden. Gefunden, wohl Tage, nachdem beide verstorben sind. Erst der Sohn, dann die pflegebedürftige Mutter. Soviel ist klar. Wann genau sie gestorben sind, ist unklar. Vielleicht um Weihnachten.
Die beiden lebten sehr zurückgezogen, hatten kaum Kontakte zu den Nachbarn gepflegt, ist zu hören. Und dennoch: „Der Fall erschreckt“, sagt Ferdinand Böhmer, der Bürgermeister von Kranenburg. Losgelöst von dem konkreten Schicksal des 52-jährigen Mannes und seiner 91-jährigen Mutter, findet er, dass sich die Gesellschaft allgemein verändert: „Es gibt mehr Egoismus in der Gesellschaft.“
Immer mehr Menschen würden sich aus der Gemeinschaft zurückziehen, wollten nicht großartig Kontakte zu den Nachbarn und sonderten sich ab. Und dies längst nicht mehr nur in der Anonymität der Großstadt, sondern zunehmend auch auf dem Land.
Der Fall in Kranenburg ist kein Einzelfall mehr
Diesen Eindruck bestätigt auch Horst Vöge. Der Vorsitzende des Sozialverbandes VdK in NRW weiß, dass der Fall in Kranenburg kein Einzelfall mehr ist. „Leider“. Dass Menschen einsam sterben und erst nach Tagen in der Wohnung gefunden werden, kommt öfter vor, als man vermuten mag. Schon vor Jahren meldete die Stadt Mönchengladbach bis zu 200 Einsätze von Ordnungsamt und Polizei im Jahr, weil ein Mensch unbemerkt in der Wohnung verstarb. Und nicht selten lagen vom Todeszeitpunkt bis zum Fund der Leiche mehrere Tage, wenn nicht Wochen.
„Das ist längst keine Frage der Großstadt mehr. Das ist eine gesellschaftliche Frage“, sagt Horst Vöge. Aus seiner Verbandsarbeit weiß er, dass sich in den vergangenen zehn Jahren das Leben im Alter verändert hat. Bis ins hohe Alter leben viele Menschen alleine in ihrer eigenen Wohnung, die Mobilität nimmt aber ab – und vor allem die Zunahme der Altersarmut trage dazu bei, „dass sich die Menschen zurückziehen. Aus Scham reduzieren sie Kontakte. Auch weil ihnen die finanziellen Möglichkeiten fehlen, ins Cafe zu gehen, an Skattagen teilzunehmen oder mit einer Gruppe wegzufahren“, weiß Horst Vöge aus seiner Verbandsarbeit.
Mehr Menschen fühlen sich einsam
Eine aktuelle Studie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, die Ende Dezember in Berlin vorgestellt wurde, geht hervor, dass der Anteil der Menschen, die sich im Alter zwischen 46 und 90 Jahren einsam fühlen, bei knapp 14 Prozent liegt und damit 1,5-mal höher ist, als in den Befragungsjahren 2014 und 2017.
Zu dem Anstieg habe sicherlich auch die Corona-Pandemie beigetragen, viele Angebote für Senioren sind weggefallen, Treffen mit Freunden fielen aus Angst vor einer Infizierung aus. Viele Menschen haben sich aus Sorge zurückgezogen. „Aber es ist auch grundsätzlich eine größere Distanz unter Nachbarn zu spüren“, sagt Horst Vöge.
Die Zeiten, als sich die Nachbarn zum Plausch am Gartenzaun trafen sind für viele offenbar schon lange lange vorbei. „Man grüßt sich, freut sich auch wenn einem Hilfe angeboten wird, aber man fragt nicht nach, möchte nicht neugierig wirken“, beschreibt Horst Vöge das gelebte Miteinander vielerorts heute – ohne jemandem einen Vorwurf machen zu wollen. „Es ist einfach so.“
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Dabei wurde die Nachbarschaftshilfe gerade zu Beginn der Corona vielerorts groß geschrieben. „Man achtete auf den anderen, fragte nach, ob er was braucht, es ihm gut geht“, erinnert Horst Vöge. Auch im Sozialverband fiel vieles den Kontaktbeschränkungen zum Opfer. „Veranstaltungen, Weihnachtsfeiern, Grillfeste, Ausflüge mussten wir wie viele Vereine absagen.“ Auch dies habe sicher dazu beigetragen, dass Kontakte verloren gegangen sind.
Kein Ersatz für persönliche Kontakte
Es gebe aber neue Anläufe von Vereinen und Verbänden in der Seniorenarbeit. Die Caritas im Kreis Wesel habe zum Beispiel in Voerde ein Projekt gestartet, „in dem sie ältere Menschen aufsucht, um Kontakte wieder herzustellen und zu zeigen: Wir sind da für Euch“.
Viele Angebote laufen mittlerweile auch für ältere Menschen über digitale Netzwerke. Allerdings sei dies im ländlichen Raum oft schwieriger, weil die Infrastruktur fehlt. Und: „Es ersetzt nicht den persönlichen Kontakt“, betont Horst Vöge. Mit Blick auf den tragischen Tod von Mutter und Sohn in Kranenburg, „der überall hätte passiert sein können“, wünscht sich Horst Vöge, dass die Menschen manchmal doch wieder neugieriger sind – und wenn sie sich nur über das Wetter mal kurz unterhalten.